Es kann leicht passieren, dass man am überwucherten Tor vorbeifährt, und schon ist man über die Grenze gefahren. Das Schild zum Autismuszentrum ist klein und die Linie zwischen Nordirland und der Republik Irland nur einige Hundert Meter entfernt. Noch kann man sie leicht und unwissend passieren. Doch bald schon ist in Middletown in der nordirischen Provinz Armagh die Außengrenze der EU. Vorstellen können sich das die Bewohner der Insel beiderseits der Grenze noch nicht, aber wenn nicht auf dem EU-Gipfel heute und morgen ein Wunder passiert, dann ist hier vieles in Gefahr, was seit 1998 mühsam neu aufgebaut wurde.

Das Karfreitagsabkommen hat den Nordirland-Konflikt nach Jahrzehnten der Gewalt mit 3500 Toten befriedet und hoch gesicherte Kontrollstellen überflüssig gemacht. Dieses Abkommen hat aber nicht nur das politische Zusammenspiel zwischen Protestanten und Katholiken geregelt, die beiden Konfliktparteien haben mit Hilfe aus London und Dublin auch viele Einrichtungen vereinbart, die Annäherung erleichtern.

Das Autismus-Center hinter dem Tor ist eine dieser Errungenschaften. Es ist die einzige Einrichtung auf der gesamten Insel, die Eltern sowie Lehrer und Betreuer im Umgang mit autistischen Kindern ausbildet.

Jim Lennon erzählt voll Stolz die Geschichte von Tiarnán. „Vor wenigen Wochen stand der 12-Jährige im Titanic-Center in Belfast vor 600 Menschen“, sagt der Zentrumsleiter. An sich sei das schon ein unglaubliches Zeichen von Selbstbewusstsein mit dieser Diagnose. „Er fing mit den Worten an: Mein Name ist Tiarnán und ich bin Autist.“ Weiter kam der Bursche nicht, weil sich die Menschen erhoben und applaudierten. Selbst er habe Tränen in den Augen gehabt, sagt Lennon, und er sei in der Mehrheit gewesen. Tiarnán gehe in eine Senior School in Dublin, weil sein irisches Umfeld in Nordirland ausgebildet wurde.
Wie es mit dem Institut weitergehe, sei ungewiss, erklärt Lennon. An dieser Ausbildungsstätte abseits des Lichtkegels der Brexit-Diskussion zeigt sich, welche unbedachten Schwierigkeiten im Alltag einer harten inneririschen Grenze lauern.

499 Kilometer Grenze, 275 Übergänge

499 Kilometer ist diese verwinkelte Linie lang, denn nie hat man in der Geschichte Grenzen festgelegt. „275 Übergänge haben wir, doppelt so viele wie die gesamte EU-Ostaußengrenze“, sagt Patricia King. Während der „Troubles“, wie der Konflikt genannt wird, waren es nur 20 – alle schwer gesichert. King ist die Vorsitzende der Irischen Vereinigung der Gewerkschaften, die die Arbeiter in der Republik und der britischen Provinz vertritt.

Die Zahlen des inneririschen Austauschs werden von allen Stellen gleichermaßen bemüht. King erwähnt ein Beispiel für die enge und grenzenlose Verzahnung beider Seiten der Insel: Irische Milch passiert, bis es zum berühmten alkoholischen Getränk Baileys wird, in seinen verschiedenen Produktionsstufen fünf Mal die Grenze. Nicht nur Produkte passieren die Grenzen ohne Kontrollen, auch Arbeitnehmer und selbst Kühe, die auf beiden Seiten der Grenze grasen. Politiker ebenso wie Gewerkschafter, Arbeitgebervertreter, Landwirte und Handwerker, sie alle bilden in der Angst um eine harte Grenze und mit den massiven Auswirkungen vor Augen ungewöhnliche Allianzen.

Angst vor der Gewalt

Über allem wirtschaftlichen Ungemach schwebt die Angst vor einem erneuten Ausbruch der Gewalt. Auch weil eine Wiedervereinigung auf beiden Seiten stärker denn je im Mund geführt wird. Im Abkommen von 1998 ist ausdrücklich vorgesehen, dass das irische Volk über diese Möglichkeit abstimmen kann. Doch die wirtschaftlichen und alltäglichen Zwänge könnten das Fernziel schnell naherücken lassen. „Es ist ein Szenario, das immer wahrscheinlicher wird“, sagt Eric Hanvey. Er sitzt als Protestant für die liberale und konfessionelle Alliance-Partei im Stadtrat von Belfast. Hier haben die Troubles einen hohen Zaun zwischen protestantischen und katholischen Vierteln hinterlassen. Hier ist die Trennung markant sichtbar. Er habe den Konflikt mit all seiner Brutalität erlebt, sagt Hanvey. „Meine Generation erinnert sich noch daran und dorthin wollen wir nicht zurück.“ Das politische Zentrum, das eine praktische Lösung will, wächst, betont der Politiker. Die Fortschritte gingen langsamer voran, als er es sich wünsche. „Integrative Schulen haben aber starken Zulauf.“ Dies stimme ihn hoffnungsvoll. Deshalb werde in seiner Partei auch offen über eine Insel ohne Grenzen gesprochen – ja, auch eventuell in einer Einheit, wenn das wirtschaftlich notwendig sei.

Séanna Walsh sitzt mit Hanvey im Stadtrat, er vertritt die irisch-republikanische Partei Sinn Féin. Einst war er ein Aktivist der IRA mit Hafterfahrung. Der Gewalt habe er abgeschworen, aber sein Ziel einer Vereinigung nicht aus den Augen verloren. „Der Brexit ist gut, weil er die Irland-Frage beschleunigt“, sagt Walsh. Die Umfragen spielen ihm in die Hände. 55 Prozent der Nordiren haben 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt. Zwei Drittel der Nordiren wünschen sich, dass EU-Standards nach dem Brexit weiter gelten. Jede andere Lösung, die von London ausgehandelt werde, würden Unionisten als Verrat empfinden. Das aber sagen sie in dieser heiklen Situation nur hinter vorgehaltener Hand.