Brett McGurk weiß, wovon er spricht. Von den Jahren 2015 bis 2018 organisierte der 46-Jährige als US-Sonderbeauftragter in Syrien und dem Irak die internationale Militärallianz gegen den "Islamischen Staat". Das Ganze sei ein "totales Desaster", twitterte er und hielt Amerikas Präsident Donald Trump vor, die Kurden in "fahrlässiger und herzloser Weise" fallenzulassen.
Seit einer Woche steht der Norden Syriens in Flammen. Der Rückzug der US-Truppen und die türkische Offensive haben die kurdischen Gebiete in ein unbeschreibliches Chaos gestürzt, das einem regionalpolitischen Beben gleichkommt. Mindestens 130.000 Menschen sind nach Schätzung der Vereinten Nationen bereits vor den Kämpfen auf der Flucht, und es werden täglich mehr.
Der militärische Widerstand der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG gegen die türkischen Angreifer aus dem Norden ist praktisch zusammengebrochen. Die Krankenhäuser der Region sind überwältigt von der Zahl der Kriegsverletzten und Bombenopfer.
Russland und der Iran geben den Ton an
Seit Trump vor einer Woche quasi über Nacht den US-Rückzug befahl, führt nun der russische Präsident Wladimir Putin Regie. Der Kremlchef, der am Montag Saudi-Arabien besuchte, verlor keine Zeit und vermittelte am Wochenende eine Vereinbarung zwischen den bedrängten Kurden und dem Regime in Damaskus, die Baschar al-Assad der Herrschaft über ganz Syrien wieder ein beträchtliches Stück näher bringt.
Am Montag rückte die syrische Armee erstmals seit ihrem Abzug 2012 von Süden her in die sieben Jahre lang quasi-autonome kurdische Rojava-Enklave ein, diesmal von den verängstigten Bewohnern sogar als Retter bejubelt. Man werde der türkischen Aggression entgegentreten, hieß es im syrischen Staatsfernsehen. Laut Vertrag soll die Assad-Armee in den nächsten Tagen die türkisch-syrische Grenzregion mit den beiden strategisch wichtigen Städten Kobanê und Manbidsch unter ihre Kontrolle bringen, ein Vorhaben, das in eine kriegerische Auseinandersetzung mit der von Norden vorrückenden Türkei münden könnte.
Nach Angaben des Oberkommandeurs der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF), die in dem vierjährigen Bodenkrieg gegen das „Islamische Kalifat“ mehr als 11.000 Leute verloren hatten, blieb der kurdischen Führung in ihrer Zwangslage nichts anderes übrig, als nun doch bei Diktator Assad Schutz zu suchen, ein Schritt, gegen den sich die Minderheit jahrelang gesträubt hatte. Auf Drängen der Amerikaner habe man in den letzten Wochen sämtliche Grenzbefestigungen zur Türkei zerstört, alle schweren Waffen abgezogen und die besten Einheiten ins Hinterland verlegt, weil man darauf vertraut habe, dass Washington zu seinem Wort stehe, schrieb Mazloum Abdi in der Online-Ausgabe der Zeitschrift „Foreign Policy“. „Nun aber müssen wir mit nackter Brust den türkischen Messern trotzen.“ Aus diesem Grund sei man gezwungen, sich nach anderen Allianzen umzusehen, auch wenn man den Versprechungen der Russen und Syrer nicht traue. „Wir wissen, dass wir schmerzhafte Kompromisse mit Moskau und Assad machen müssen“, schrieb Abdi. Wenn man aber zwischen Kompromissen und dem Genozid am eigenen Volk wählen müsse, „entscheiden wir uns definitiv fürs Überleben unseres Volkes“.
Brüsten mit Verbrechen
Diese Wende der kurdisch-syrischen Führung wurde durch viele Videos am Wochenende ausgelöst, auf denen sich syrisch-arabische Söldner, die an der türkischen Offensive teilnehmen, vor Handykameras mit ihren Massakern an der Zivilbevölkerung und gefangenen kurdischen Kämpfern brüsten. Wie auf den Videos zu sehen ist, richteten sie auf offener Straße gefesselte Kurden unter „Allah ist groß“-Rufen hin. Unter den Opfern ist die kurdische Politikerin Hevrin Khalaf. Ihre islamistischen Mörder zerrten die 35-Jährige aus dem Auto und erschossen sie mit ihrem Fahrer und einer Mitarbeiterin. Zurück blieb ein durchsiebter SUV, in dem die populäre Frauenrechtlerin unterwegs gewesen war.
Europa wiederum beunruhigt vor allem eine mögliche Massenflucht der 10.000 gefangenen IS-Fanatiker, von denen 2000 aus dem Ausland stammen. 800 sind Europäer, doch die meisten ihrer Heimatstaaten weigern sich, die extrem radikalisierten Landsleute zurückzunehmen und vor Gericht zu stellen. Eine Reihe der provisorischen Gefängnisse für die IS-Männer und Internierungslager für die 70.000 IS-Familienmitglieder liegen in der von Erdogan beanspruchten 30-Kilometer-Grenzzone. 800 IS-Anhänger, die meisten ausländische Frauen mit ihren Kindern, konnten am Samstag nach einer Revolte aus dem Lager Ain Issa entkommen, weil die kurdischen Bewacher verschwunden waren.
Eine Handvoll der gefährlichsten Jihadisten verlegten US-Einheiten in der Vorwoche in irakische Gefängnisse. Die Evakuierung weiterer 60 IS-Schlüsselfiguren am Sonntag scheiterte, weil wütende kurdische Militärs ihre bisherigen US-Verbündeten daran hinderten. Die Kurden könnten womöglich IS-Gefangene freilassen, argwöhnte am Montag Trump per Twitter, um die USA bei der Stange zu halten.
Martin Gehlen