Oft hatte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan diesen Schritt angekündigt, jetzt ist es so weit: Gestern Nachmittag begann die Türkei mit der seit mehreren Tagen vorbereiteten Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien, teilte Erdogan auf Twitter mit. „Quelle des Friedens“ ist laut Erdogan der Codename für die Invasion. Und ob die Operation zum Frieden führt, ist ungewiss. Zunächst einmal könnte sie den syrischen Bürgerkrieg wieder anfachen und neue Flüchtlingsströme auslösen. Das bekäme auch Europa zu spüren.
US-Präsident Donald Trump hatte am Sonntag überraschend erklärt, die amerikanischen Soldaten würden aus der Grenzregion abgezogen. Damit gab Trump den Türken praktisch freie Hand für einen militärischen Vorstoß nach Syrien. Erste militärische Ziele der Invasion dürften die Eroberung der grenznahen kurdischen Hochburgen Kobane und Ras al-Ain sowie die Sicherung der Überlandstraße M-4 sein, einer strategisch wichtigen West-Ost-Route, die vom Euphrat quer durch Nordsyrien zur irakischen Grenze verläuft.
"Sicherheitszone"
Erdogan will in der Region zwischen dem Euphrat im Westen und der irakischen Grenze auf syrischem Gebiet eine etwa 400 Kilometer lange und 30 bis 40 Kilometer tiefe sogenannte „Sicherheitszone“ schaffen. Damit verfolgt er zwei Ziele: Erstens will er dort bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die sich jetzt noch in der Türkei aufhalten. Die Anwesenheit der Flüchtlinge führt in der Türkei zu immer größeren sozialen Spannungen. Zweitens sollen die Milizen der syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG, die jetzt noch große Teile der Grenzregion kontrollieren, von dort vertrieben werden. Die Türkei sieht in der YPG den syrischen Ableger der als Terrororganisation verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Mit der geplanten Invasion führt Erdogan die Türkei allerdings in ein militärisches Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Die syrischen Kurden haben bereits Widerstand angekündigt. Die YPG rief am Mittwoch die kurdische Bevölkerung zu einer Generalmobilmachung auf. Wir rufen unser Volk aus allen ethnischen Gruppen auf, sich in die Gebiete an der Grenze zur Türkei zu bewegen, um Widerstand zu leisten“, hieß es in einer Erklärung der kurdischen Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Sie appellierte an die internationale Gemeinschaft, Verantwortung zu übernehmen, da „eine humanitäre Katastrophe über unser Volk hereinbrechen könnte.“
Kurden werden sich wehren
Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun schrieb in einem Beitrag für die „Washington Post“, die Türkei wolle die syrisch-kurdischen Kämpfer „neutralisieren“ und die örtliche Bevölkerung „vom Joch der bewaffneten Schläger befreien“. Aber die Kurden werden sich womöglich nicht so leicht geschlagen geben. Die YPG ist hoch motiviert und mit modernsten Waffen ausgerüstet – zur Verfügung gestellt von den Amerikanern für den Kampf gegen das Terrornetzwerk IS.
Im Kampf gegen die IS-Terroristen haben sich die Kurdenmilizen als mutige und hoch erfolgreiche Truppe erwiesen. Die türkischen Streitkräfte könnten also bei ihrem Vorstoß auf erbitterten Widerstand stoßen. Gefährlicher noch: Wenn die YPG nun in Kämpfe mit der türkischen Armee verstrickt wird, könnte davon der bisher von den Kurden in Schach gehaltene IS profitieren und sich neu formieren. Noch halten die Kurdenmilizen etwa 10.000 ehemalige IS-Kämpfer in provisorischen Gefängnissen fest. Sie könnten in den Wirren einer türkischen Invasion auf freien Fuß gelangen.
Neue Terrorwelle?
Politisch ist die Invasion für Erdogan auch deshalb riskant, weil sie den Kurdenkonflikt im eigenen Land neu anfachen könnte. Die PKK ist zwar militärisch geschwächt. Sie könnte aber versuchen, mit Terroranschlägen zu reagieren, wie sie es bereits in früheren Jahren tat.
Auch für Europa beschwört ein türkischer Einmarsch in Nordsyrien neue Probleme herauf. Der syrische Bürgerkrieg wird dadurch neu angefacht. Auch wenn es Erdogans Ziel ist, Flüchtlinge in der geplanten Schutzzone anzusiedeln, dürfte die Invasion zunächst einmal eine neue Flüchtlingswelle auslösen. Die Menschen könnten anfangs Zuflucht im Irak suchen. Aber sicher ist: Wenn jetzt wieder Hunderttausende auf die Flucht gehen, wird das über kurz oder lang auch den Migrationsdruck auf Europa verstärken.
Besatzung
Ohnehin sind Erdogans Pläne für eine Schutzzone aus Sicht der Europäer politisch brisant. Bei Licht besehen handelt es sich um eine militärische Besatzungszone auf dem Staatsgebiet Syriens. Dass die Türkei dort durch die Vertreibung der Kurden und die Ansiedlung ethnischer Araber die demografischen Strukturen dauerhaft zu ändern versucht, macht die Sache noch problematischer.
Die Türkei will für die Unterbringung der Flüchtlinge in der Region zehn Städte und 140 Dörfer errichten. An den Kosten, die in Ankara mit knapp 25 Milliarden Euro beziffert werden, soll sich nach türkischen Vorstellungen die EU beteiligen. Dass die Europäer darauf eingehen, ist angesichts der völkerrechtlichen Problematik des Umsiedlungsprojekts aber kaum zu erwarten.