Die Reihe der historischen Projekte, die Israels Premier Benjamin Netanjahu umzusetzen gelobt, ist verblüffend lang. In den vergangenen zehn Tagen versprach er, das Jordantal zu annektieren, was einer Zwei-Staaten Lösung endgültig den Garaus machen würde. Er stellte ein Verteidigungsbündnis mit den USA in Aussicht. Er will das Wahlrecht verändern, damit Wähler beim Gang zur Wahlurne fortan gefilmt werden können. Angesichts des andauernden Raketenbeschusses Südisraels schätzte er zudem, ein baldiger Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen sei unabwendbar. Nebenbei legte er geheime Erkenntnisse über Irans geheimes Atomprogramm offen, die auch hier einen israelischen Präventivschlag nahe legen.
Jede dieser Aussagen wäre genug, um die Amtszeit eines Premiers zu definieren. Dennoch scheinen nur wenige Israelis begeistert. Die meisten betrachten sie als Teil von Netanjahus hemmungslosen Wahlkampf.
Am Dienstag werden Israelis zum zweiten Mal dieses Jahr zu den Urnen gebeten. Netanjahu hatte die neuen Parlamentswahlen kurz nach den letzten Wahlen ausgerufen, nachdem es ihm misslungen war, eine Koalition zu bilden. Auch diesmal dürfte es ihm nicht leicht fallen, seine fünfte Regierung in Folge zu bilden. In Umfragen liefert er sich mit dem Oppositionsführer Benny Gantz ein Kopf an Kopf Rennen, weder das rechte noch das linke Lager werden eine klare Mehrheit von mindestens 61 Sitzen erringen. Der am längsten amtierende Premier der Landesgeschichte steht deshalb vor dem schwersten Kampf seiner Karriere. Es geht um Netanjahus politische und persönliche Zukunft, und darüber, welche Richtung Israel fortan einschlagen wird.
Erfolgsmodell Netanjahu
Laut Umfragen könnte Netanjahus Likud-Partei zwar auch in der nächsten Knesset knapp zur größten Fraktion werden. Viele Wähler halten Netanjahu die Treue. Das liegt nicht nur an seinen rhetorischen Fähigkeiten. Auch objektive Kriterien bewegen zahlreiche Israelis dazu, ihm ihre Stimme zu geben. Die Wirtschaft boomt, der israelische Schekel ist eine der stabilsten Währungen der Welt, die Arbeitslosigkeit seit Jahren niedrig, und selbst die eklatanten sozialen Unterschiede, die Israels neo-liberale Wirtschaft prägten, schrumpfen neuerdings. Unter Netanjahu Amtszeit sterben weniger Israelis sterben als unter jedem seiner Vorgänger. Er hat sein kleines Land vom Pariah in eine diplomatische Weltmacht verwandelt. Netanjahu vermittelt heute zwischen den USA und Russland, ist regelmäßig Gast der wichtigsten Regierungschefs der Welt, von Brasilien, bis Indien und China. Dank seiner engen Beziehungen zu US-Präsident Donald Trump erkannte Washington Jerusalem als Israels Hauptstadt und die Annektierung der Golan-Höhen an. All dies rechnen Israelis ihrem erfahrensten Diplomaten hoch an.
Angriff auf die Grundfesten der Demokratie
Doch nicht alles ist rosig. Die Sicherheitslage in Israels Süden eskaliert. Seit 2018 feuerte die Hamas von Gaza aus mehr als 1800 Raketen auf israelische Ortschaften ab, Netanjahu scheint indes ratlos. Die Wirtschaft beginnt zu lahmen, im Haushalt klafft ein tiefes Loch. Im OECD-Vergleich gerät Israels einst vorbildliches Gesundheitswesen ins Hintertreffen, dasselbe gilt für das Schulwesen. Dass Netanjahu diese Probleme nicht mehr löst sondern mehrt hat vor allem einen Grund: Korruptionsprozesse, die seinen politischen Spielraum immer mehr einengen.
Netanjahu könnte schon bald in drei Fällen wegen Korruption und Amtsmissbrauch angeklagt werden. Um das zu verhindern, ist er zu Angriffen auf Israels demokratischen Grundfesten übergegangen. Anfangs zielte er nur auf die Medien, die über die Ermittlungen berichteten. Als die Polizei empfahl, Anklage zu erheben, weitete er seine Angriffe auf die Ermittler aus. Inzwischen attackiert Netanjahu die Justiz, den von ihm ernannten Generalstaatsanwalt und Rechtsberater der Regierung und die zentrale Wahlkommission, untergräbt die Legitimation fast aller staatlichen Einrichtungen. Jetzt will er nur mit den Parteien koalieren, die zustimmen, ihm als Premier Immunität vor dem Gesetz zu verleihen. Dazu sind aber nicht nur immer weniger Politiker bereit. Und wer diesen Forderungen zustimmt, lässt sich das teuer bezahlen.
Unmut über Privilegierung der Nationalreligiösen
So ernannte Netanjahu umstrittene Minister einer ultra-nationalistischen, national-religiösen Nischenpartei. Israel hat jetzt einen Bildungsminister, der die „Konversion“ Homosexueller befürwortet. Im neuen Schuljahr blieben im Schulwesen 1700 Lehrstellen unbesetzt, hauptsächlich in naturwissenschaftlichen Fächern. Stattdessen hatte das Ministerium Anweisung, 477 Thoralehrer einzustellen. Netanjahu ist bereit, die Wähler ultra-orthodoxer Parteien weiterhin vom Wehrdienst freizustellen, und soll sogar erwägen, Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum zu tolerieren.
All das lässt immer mehr Bürger um ihre Demokratie, den Zusammenhalt ihrer Gesellschaft und ihre Wirtschaft fürchten. Am Dienstag wird sich zeigen, was bei Israels Wählern schwerer wiegt: die Zufriedenheit mit der jüngeren Vergangenheit, oder die Angst um ihre Zukunft.
Gil Yaron aus Tel Aviv