Ermutigt von den Massenprotesten gegen den britischen Premierminister Boris Johnson hat Oppositionsführer Jeremy Corbyn die Abgeordneten aller Parteien zum Widerstand im Parlament aufgerufen. Wenn das Unterhaus am Dienstag aus der Sommerpause kommt, müssten alle zusammenstehen, um einen Ausstieg aus der EU ohne Austrittsabkommen zu verhindern, sagte Corbyn am Samstag im schottischen Glasgow.
Dort protestierten wie in vielen anderen Städten zehntausende Demonstranten gegen Johnson und dessen umstrittene Entscheidung, das Parlament wochenlang zu suspendieren. Viele sprachen von einem Anschlag auf die Demokratie.
"Riesige Bewegung"
Alena Ivanova von den Initiatoren der Anti-Brexit-Gruppe "Another Europe Is Possible" kündigte weitere Proteste an. "Das war der Anfang einer riesigen Bewegung", meinte sie.
Johnson will die mehr als 600 Abgeordneten in eine gut vierwöchige Zwangspause schicken, bevor er am 14. Oktober - zweieinhalb Wochen vor dem geplanten Brexit-Datum - sein Regierungsprogramm präsentiert. Seine Gegner argwöhnen, dass er damit einen Vorstoß der Opposition gegen seine Politik im Parlament verhindern will. Labour-Chef Corbyn hofft, einen ungeordneten Brexit mit Unterstützung von Rebellen in der Regierungspartei per Gesetz verhindern zu können. Sollte es dennoch dazu kommen, befürchten viele Chaos und einen Konjunktureinbruch. Für einen Gesetzesvorstoß wird die Zeit aber nun sehr knapp.
Stichtag 31. Oktober
Johnson schließt einen EU-Austritt ohne Abkommen nicht aus. Er will unbedingt am Austrittsdatum 31. Oktober festhalten. Das vorliegende Austrittsabkommen akzeptiert er nicht. Er verlangt Nachbesserungen, zu der die EU aber bisher nicht bereit ist. Sie wartet nach eigenen Angaben auf konkrete Vorschläge aus London, wie genau eine Lösung aussehen könnte.
Bei den Protesten in London, Manchester, Birmingham, Liverpool, Leeds und vielen anderen Städten machten Demonstranten ihrem Ärger mit Rufen wie "Boris, raus" und "Schäm' Dich, Boris" Luft. In Oxford demonstrierten Studenten am Balliol College, wo Johnson einst studierte. Sie kritisierten sein Vorgehen als undemokratisch.
Stimme des Volkes
"Wir können es Boris Johnson nicht erlauben, das Parlament und die Stimme des Volkes zu unterdrücken", meinte die innenpolitische Sprecherin der Labour Party, Diane Abbott, in London, wo sie mit Demonstranten vor dem Regierungssitz in der Downing Street stand. Tausende Menschen machten dort mit Trommeln, Pfeifen und Sprechchören Krach. "Es geht um unsere Demokratie", sagte Studentin Audrey (23). "Egal, ob man für oder gegen den Brexit gestimmt hat - er kann nicht einfach das Parlament schließen", sagte sie an die Adresse Johnsons. "Das Volk hat ihn nicht gewählt", sagte Mia (26). "Wir dürfen nicht zulassen, dass so ein Politiker uns in ein Desaster führt." Johnson hatte seine Vorgängerin Theresa May im Juli nach einer Abstimmung unter Mitgliedern der konservativen Partei abgelöst.
Der Chefunterhändler der EU für den Brexit, Michel Barnier, schloss indes eine grundlegende Änderung des mit Großbritannien ausgehandelten EU-Austrittsabkommens aus. Die sogenannte "Backstop"-Regelung, mit der die EU eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern will und die der neue britische Premierminister Boris Johnson ablehnt, müsse bestehen bleiben, schrieb Barnier in einem Beitrag für die britische Zeitung "Sunday Telegraph".
"Nicht optimistisch"
Er sei "nicht optimistisch", dass ein ungeregelter Brexit noch zu verhindern sei, schrieb der französische Diplomat weiter.
Johnson fordert eine Neuverhandlung des EU-Austrittsabkommens mit der EU. Erreichen will er vor allem, dass die EU auf die sogenannte Backstop-Regelung zu Nordirland verzichtet, die Großbritannien auch nach dem Brexit bis auf weiteres in einer Zollunion mit der EU halten würde.
Der Backstop sei das "Maximum an Flexibilität, das die EU einem Nicht-Mitgliedsstaat anbieten kann", schrieb Barnier nun. Obwohl er daran zweifle, dass ein No-Deal-Brexit noch verhindert werden könne, sei er "entschlossen", alle Ideen zu prüfen, "die Großbritanniens Regierung der EU präsentieren" werde und die "kompatibel" mit dem bestehenden Austrittsabkommen seien.