Der zweite August wird in die Geschichte eingehen als ein Tag, an dem ein Grundpfeiler der globalen Rüstungskontrolle zerbrach – mit schwerwiegenden Folgen für Europas Sicherheit. Mit dem heutigen Auslaufen des Vertrages über das Verbot von landgestützten Mittelstreckenraketen (INF), den Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1987 geschlossen hatten und der maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges beitrug, steigt erstmals wieder seit den 1980er-Jahren die Gefahr eines nuklearen Wettrüstens.
Der INF-Vertrag, der fristgerecht bereits im Februar von der Regierung Trump aufgekündigt wurde, verbot Russland und den USA den Besitz und das Testen von landgestützten Raketen und Marschflugkörpern, die eine Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern haben. 2692 dieser Waffensysteme wurden nach Abschluss des Vertrages eliminiert. Mit dem Abzug der SS-20 auf russischer Seite und den Pershing-II-Mittelstreckenraketen auf amerikanischer Seite ging eines der gefährlichsten Kapitel des Kalten Krieges zu Ende.
Im Ernstfall hätten diese Raketen, bestückt mit Nuklearsprengköpfen, innerhalb weniger Minuten Millionen von Menschenleben in Europa auslöschen und die Welt in einen nuklearen Winter stürzen können. Ab jetzt können die USA und Russland wieder solche potenziellen Massenvernichtungswaffen besitzen. Freilich, die Welt hat sich seit den 1980er-Jahren geändert: China, Indien, Pakistan, Nordkorea, Israel, der Iran und Saudi-Arabien verfügen heute über Mittelstreckenraketen. Die USA und Russland besitzen aber noch immer 90 Prozent aller weltweiten Atomsprengköpfe.
Der andere ist schuld
Beide Seiten bezichtigen sich des Vertragsbruches. Die Nato weist seit 2014 darauf hin, dass der russische Marschflugkörper 9M729 (Nato-Bezeichnung: SSC-8) eine Reichweite von circa 1500 bis 2000 Kilometer hat. Moskau bezichtigt Washington hingegen, dass amerikanische MK-42-Raketenabwehrsysteme in Rumänien dazu benutzt werden könnten, Mittelstreckenraketen gegen Russland abzufeuern. Laut mehreren technischen Analysen steht die russische Vertragsverletzung außer Zweifel; es stimmt ebenfalls, dass das MK-42 System mit einigen Modifikationen russische Ziele angreifen könnte.
Washington und Moskau zeigten aus mehreren Gründen wenig Interesse an einer diplomatischen Lösung des Konfliktes.
Erstens, Russland kann durch das Vertragsende schneller militärisch aufrüsten und gleichzeitig Europa kostengünstiger einschüchtern. Landgestützte Mittelstreckenraketen sind billiger als see- und luftgestützte Systeme und können, mit konventionellen (nicht atomaren) Sprengköpfen bewaffnet, auch Nato-Verbände in Westeuropa bedrohen.
Entkoppelung der Sicherheitsinteressen
Zweitens kann die Stationierung von diesen Waffen zu einer Entkoppelung der Sicherheitsinteressen der USA und ihrer europäischen Bündnispartner führen. Da Mittelstreckenraketen nur Ziele in Europa und nicht in den USA treffen können, könnte die Glaubwürdigkeit des amerikanischen atomaren Schutzschirmes von den Europäern infrage gestellt werden. Würden die USA wirklich auf einen russischen regionalen Atomschlag mit Interkontinentalraketen und einem globalen Nuklearkrieg reagieren?
Drittens, wenn sich die USA entschließen würden, als Gegenreaktion selbst landgestützte Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren, könnte dies zu Zerwürfnissen unter den Bündnispartnern führen. Deutschland würde wohl die Stationierung von konventionell bewaffneten Mittelstreckenraketen verweigern. Länder wie Polen könnten dies zum Beispiel als sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei Berlins abkanzeln. Auch innenpolitische Probleme wären vorprogrammiert. Russland kämen solche Spannungen innerhalb der Allianz zugute.
Auch die USA haben augenscheinlich gute Gründe auszusteigen: Erstens versucht Washington durch den Ausstieg ein selbst diagnostiziertes Ungleichgewicht zugunsten Russlands bei den nuklearen Kurz-und Mittelstreckenwaffen auszugleichen, das die USA und ihre Verbündeten angeblich verwundbarer macht.
Zweitens sieht Washington China und nicht Russland als den großen militärischen Gegner der Zukunft. 90 Prozent des chinesischen Raketenarsenals besteht aus Mittelstreckensystemen. Um deren Einsatz abzuschrecken, wollen einige Pentagon-Strategen schon seit Jahren landgestützte Mittelstreckenraketen in Asien, zum Beispiel auf Okinawa, stationieren. Die USA verfügen zwar über see-und luftgestützte Mittelstreckenraketen, doch am Boden stationierte Waffensysteme sind kostengünstiger und im Einsatz effektiver. Das amerikanische Verteidigungsbudget für 2020 sieht bereits die Entwicklung von drei solchen Raketen vor, trotz heftiger Gegenwehr der demokratischen Opposition.
Flexibilisierung der Einsatzoptionen von Atomwaffen
Drittens will die Regierung Trump eine Flexibilisierung der Einsatzoptionen von Atomwaffen der USA, um die nukleare Abschreckung zu stärken. Der Trend der letzten zwei Jahre geht in Richtung Entwicklung von Nuklearwaffen mit geringerer Sprengkraft. Mittelstreckenraketen würden sich als ideale Träger solcher kleineren nuklearen Gefechtsköpfe anbieten. Der Hintergrund hierzu: Man will Russland glaubwürdiger signalisieren, dass solche Waffen im Ernstfall auch eingesetzt werden würden. Laut der paradoxen Logik der Abschreckung minimiert dies die Kriegsgefahr. Gleichzeitig, und wahrscheinlicher, kann es aber auch zu einer unkontrollierten Eskalation führen, die möglicherweise in einem globalen Nuklearkrieg endet.
Das Ende des INF-Vertrages bedeutet, dass auf Europa unruhige sicherheitspolitische Zeiten zukommen werden. Sich symbolisch für ein weltweites Atomwaffenverbot einzusetzen, wie es die Wiener Regierung tut, wird wenig helfen, dieses neue globale nukleare Wettrüsten einzudämmern.