Länger als eine Stunde darf Großbritannien nicht ohne Premierminister sein. Innerhalb dieser sechzig Minuten, in bulliger Hitze, empfing Königin Elizabeth II. darum am Mittwoch im Buckingham-Palast zwei Besucher. Erst Theresa May, die sich als Regierungschefin verabschiedete. Und dann Boris Johnson, Ihrer Majestät 14. Premierminister.

Um ihre Rolle spielen zu können, hatte die Königin ihren Sommerurlaub im schottischen Schloss Balmoral verschoben und war im kochend heißen London geblieben. Johnson rollte, von Klima-Demonstranten behindert, fröhlich winkend, in den Innenhof des Palastes.

Carrie Symonds, seine Lebensgefährtin, wartete derweil brav im Pulk der Downing-Street-Mitarbeiter. Symonds ist, wie man hört, willens, mit ihrem „Bozzy Bear“ in Downing Street einzuziehen, nachdem sie ihn kürzlich noch bei einem bitteren Streit aus ihrer eigenen Wohnung werfen wollte.

99 Tage, um den Brexit zu verwirklichen

Gerüchte über Johnsons „neues Regime“ schwirrten bereits durch Westminster und das Regierungsviertel Whitehall, als dieser sich noch bei der Königin aufhielt. „Der Neue“, so hieß es, habe ein ganzes Sortiment von Brexit-Hardlinern für die Topämter seiner Regierung ausgewählt.

Der ihm aus Referendumstagen vertraute Kopf der „Vote Leave“-Kampagne, Dominic Cummings, eine sehr umstrittene Figur, soll einer seiner wichtigsten Berater werden. Immerhin hat der neue Premier sich darauf festgelegt, sein Land zum 31. Oktober, der Brexit-Ablauffrist, aus der EU zu führen – mit oder ohne Deal mit Brüssel. 99 Tage hat Johnson nur, um sein Versprechen einzulösen.

Boris Johnson ist am Ziel: Mit der obligaten Audienz bei der Queen begann am Mittwoch seine Amtszeit als britischer Premierminister
Boris Johnson ist am Ziel: Mit der obligaten Audienz bei der Queen begann am Mittwoch seine Amtszeit als britischer Premierminister © (c) APA/AFP/POOL/VICTORIA JONES (VICTORIA JONES)

Er wolle keine Zeit verschwenden, versicherte der Neue bei seinem ersten Auftritt vor der berühmten schwarzen Tür von No 10. „Die britische Bevölkerung hat vom Warten genug“, erklärte er in Churchill-Manier. „Die Zeit zum Handeln und für starke Führung ist gekommen.“ Leider, fügte er hinzu, bezweifelten „Pessimisten daheim und im Ausland“ immer noch, dass es für die Briten möglich sei, aus der EU auszutreten. Den „Schwarzsehern“ hielt er entgegen, dass er den Referendumsauftrag erfüllen werde, egal, was da komme. Wer gegen Großbritannien wette, werde noch „das Hemd am Leib verlieren“. Und wenn es nicht anders gehe, so Johnson, werde sein Land halt ohne Vereinbarung aus der EU ausscheiden: „Dann haben wir immer noch unsere 39 Milliarden Pfund.“ Statt auf Risiken müsse man sich in London jetzt auf „die Gelegenheiten“ des Brexits konzentrieren: „Niemand sollte unser Land unterschätzen!“

Standing Ovations für Theresa May

Zuvor hatte sich Theresa May vor derselben Tür in gedämpfteren Tönen von der Nation verabschiedet. Ihrem Nachfolger wünschte sie „guten Erfolg“. Zu einem Protestruf von der Straße, man müsse den „Brexit stoppen“, meinte sie nur: „Ich glaube nicht.“ Sehr überzeugt klang das aber nicht. Davor hatte die Tory-Fraktion im Unterhaus die scheidende Regierungschefin mit stehenden Ovationen geehrt.

Theresa May verlässt ihren Amtsitz
Theresa May verlässt ihren Amtsitz © (c) AP (Tim Ireland)

Spötter wiesen darauf hin, dass es dieselben Abgeordneten waren, die May heftig angefeindet hatten. Johnsons Anhänger zeigten sich überglücklich. Jacob Rees-Mogg, das Sprachrohr der Tory-Hardliner auf den Hinterbänken, jubelte, der neue Premier habe „ein klares Mandat“, um den „Brexit in einen Erfolg umzumünzen“. Innenminister Sajid Javid forderte in fast nordkoreanischem Stil seine Kollegen auf: „Lasst uns nun unter seiner vortrefflichen Führung zusammenfinden!“ Und Gesundheitsminister Matt Hancock, der sich von einem Kritiker Johnsons in dessen Bannerträger gewandelt hatte, berichtete von der ersten Begegnung der Fraktion mit ihrem neuen Vorsitzenden: „Er hat uns allen ein gutes Gefühl gegeben.“ Dieses „gute Gefühl“ scheint sich allerdings nicht allen Konservativen mitgeteilt zu haben. Ein anderer Hinterbänkler, der Abgeordnete Keith Simpson, kam eher resigniert aus demselben Treffen getrottet. „Der Zirkus ist da“, meinte Simpson kopfschüttelnd.

Dominic Raab wird Außenminister

In der Tat ist nicht jeder Tory bereit, vor „Big Boris“ in die Knie zu gehen. Mehrere Minister des „alten Regimes“ reichten am Mittwoch ihren Rücktritt ein, unter ihnen Schatzkanzler Philip Hammond und Justizminister David Gauke. Am Abend gab Johnson bekannt, dass er nach der Entlassung von Jeremy Hunt den vormaligen Brexit-Minister Dominic Raab zu seinem Außenminister ernannt hat. Und als Draufgabe wird Innenminister Sajid Javid neuer Finanzminister. Eine ganze Gruppe Tories hat geschworen, im Unterhaus einen „No Deal“-Brexit zu stoppen. Selbst wenn man die zehn Parlamentarier der nordirischen Unionisten einrechnet, verfügt Johnson nur über eine hauchdünne Mehrheit.

„Im Moment gibt es eine Mehrheit von nur zwei Stimmen – und ich allein habe mindestens drei Freunde“, frotzelte Entwicklungshilfeminister Rory Stewart, einer der „Rebellen“. Labour-Politiker bestätigten, dass sie hinter den Kulissen mit den rebellischen Tories verhandeln. Letzten Endes könnte womöglich nur ein parlamentarischer Misstrauensantrag gegen Johnsons Regierung einen ungeordneten Abgang Großbritanniens aus der EU verhindern. Bei der Opposition hofft man auf vorgezogene Neuwahlen.