Europa ist eine Frau. Zumindest in der griechischen Mythologie. Nun gönnt sich die EU zum ersten Mal eine weibliche Doppelspitze – und die Frage ist: Werden Ursula von der Leyen als neue Kommissionschefin und Christine Lagarde als designierte Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) die EU weiblicher machen?

Zumindest machen die beiden Europa weltläufiger. Christine Lagarde, 63, ist seit 2011 Chefin des Internationalen Währungsfonds. Als solche managte sie die Eurokrise entscheidend mit. Und als solche trifft sie auf den Gipfeln von G20 bis G7 die Mächtigen der Welt. Kurzum: Die Frau ist voll satisfaktionsfähig.

Ursula von der Leyen
Ursula von der Leyen © APA/AFP/FREDERICK FLORIN

Ursula von der Leyen, 59, ist in Brüssel geboren. Ihr Vater, der spätere CDU-Ministerpräsident in Niedersachsen Ernst Albrecht, arbeitete damals für die EU-Kommission. Einen Teil ihres Medizin-Studiums absolvierte von der Leyen in Großbritannien. Auch sie kennt also mehr als nur die deutsche Provinz. Fließend Englisch und Französisch spricht die neue Kommissionschefin. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte vor allem Letzteres ausdrücklich zur Bedingung für Europas Tob-Job erhoben. Sind aber Sprachen aber nicht eigentlich weiche Fähigkeiten, die in der Schule besonders Frauen zugeschrieben werden? Wobei sich gleich eine andere Frage stellt: Was soll das sein, das Weibliche in der Politik? „Was ich sagen kann, es gibt eine sehr männliche Art, Politik zu machen. Das hat dieser Gipfel mit seinem Hinterzimmerdeal gezeigt“, sagt Ska Keller, Chefin der Grünen im Europaparlament, der Kleinen Zeitung.

Christine Lagarde
Christine Lagarde © APA/AFP/JOHN THYS


Der - äußerst virile - US-Politologe Robert Kagan umschrieb es einmal so: „Europa kommt von der Venus, die USA sind Mars.“ Kurzum: Der Männlichkeit wird das Harte in der Politik zugedacht, Weiblichkeit eher mit Friedfertigkeit assoziiert. Um nicht zu sagen mit Weichheit. Wenn sich die politische Männerwelt da nicht täuscht in Europas neuem Frauenteam, das ergänzt wird von Margrethe Vestager als Vize-Chefin der EU-Kommission.

Margrethe Vestager
Margrethe Vestager © AP


Die Dänin hat sich als EU-Wettbewerbskommissarin erfolgreich mit den großen Konzernen Google, Amazon und Facebook angelegt. Sie stützte sich dabei nicht auf brutale Macht, sondern auf die Stärke des Rechts. Auch Justitia aber ist weiblich. Die Waffe der Frau in der Politik ist also eher die Klugheit. Und auch Prudentia ist feminin. Dazu passt, dass in der Öffentlichkeit als erstes weibliche Faktoren mit Europas neuem Dream-Team verbunden werden. Die resolute von der Leyen ist die Mutter von sieben Kindern, die grazile Lagarde die ehemalige Synchronschwimmerin, Vestager die Vorlage für den TV-Politkrimi „Borgen“.


Eines jedenfalls ist den Frauen gewiss. Der Zweifel daran, ob sie den Job überhaupt schaffen. „Als ich anfing, wurden Wetten abgeschlossen, wie viele Tage ich durchhalte“, erinnerte sich von der Leyen an ihren Start vor sechs Jahren als Verteidigungsministerin, der ersten Frau in diesem Amt in der Geschichte Deutschlands. In Hintergrundrunden am Rande von Nato-Treffen in Brüssel dozierte die Ministerin über die politischen Linien. Militärische Fachfragen zu Panzerverbänden oder Brigadestärken überließ sie mit einem Blick über die Schulter ihrem Generalkommandeur. Das wirkte souveräner als eine ausweichend wabernde Antwort.
In Deutschland verdarb es sich von der Leyen bald mit der Truppe, sie drängte harsch auf einen radikalen Bruch mit der Geschichte der Wehrmacht. Bald bunkerte sie sich mit einem kleinen Stab ein. Unliebsame Affären ploppten auf: die Sanierung des historischen Segelschulschiffs der Bundesmarine „Gorch Fock“ etwa oder undurchsichtige Beraterverträge. Die Beförderung nach Brüssel kommt zur passenden Zeit.

Strenge, Härte, Unnachgiebigkeit

Dort trieb sie die Zusammenarbeit der EU-Staaten in der Verteidigungspolitik (Pesco) voran. Ungarns Premier Viktor Orbán lernte sie in der Ukraine-Krise wegen ihrer harten Haltung gegenüber Russland schätzen. Strenge, Härte, Unnachgiebigkeit – überzeugt ausgerechnet das die männlichen Kollegen von Frauen in der Politik?
Auch Christine Lagarde wird eine gewisse Unnachgiebigkeit nachgesagt. Die juristischen Bedenken des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble an der Eurorettung Griechenlands wischte sie in Brüssel mit dem Satz weg. „Wenn hier noch einmal jemand Bundesverfassungsgericht sagt, verlasse ich den Raum.“ Auch Jean-Claude Juncker verärgerte sie in der Hellaskrise mit ihrer Forderung nach drastischen Sparmaßnahmen in Athen. Minutenlang standen beide nach einem Treffen der Eurogruppe nebeneinander im Brüsseler Ratsgebäude am Stehpult und warteten auf den Beginn der Pressekonferenz, Juncker pfiff leise vor sich hin, um das Schweigen zu überbrücken. Gesprochen wurde kein Wort. Dass sie rechnen kann, hatte die Juristin Lagarde zwischen 2007 und 2011 als Wirtschafts- und Finanzministerin Frankreichs bewiesen. Auch dies ein Kernressort, das gern Männern zugeschrieben wird.

Durchsetzungsfähigkeit ist die entscheidende Fähigkeit in der Politik. Egal, ob von Männern oder Frauen. In dieser Hinsicht gab es ausgerechnet Zweifel am unterlegenen Mitbewerber um das Kommissionsamt, dem deutschen Christdemokraten Manfred Weber. Als der im Frühjahr seinen Wahlkampf in Athen eröffnete, formte ein hoher EU-Beamter in der Hintergrundrunde mit den beiden Zeigefingern Teufelshörnchen neben seinen Kopf. Der neue Chef muss nicht nur teuflisch gut, sondern auch höllisch abgebrüht sein, um sich gegen die selbstbewusste und -verliebte Beamtenschaft der EU-Kommission durchzusetzen. Auch diese Zweifel stoppten Weber.

Der niederländische EU-Kenner Luuk van Middelaar hat in seinem Buch „Vom Kontinent zur Union“ die unterschiedlichen Politikstile in Europa beschrieben. Der Süden schätze das Drama – wie in der Eurokrise. Der Norden bevorzuge Sachlichkeit und Effizienz. In diesem Sinn hat sich Europa mit seinem neuen Führungsduo eher für die nördliche Variante entschieden. Ursula von der Leyen gilt als die Tadellose, Typ Musterschülerin. Christine Lagarde als die Effiziente, Typ Macherin. Nach außen hin verkörpern beide aber doch eher eine gewisse Distanziertheit. Für das ohnehin kühle Image der Europäischen Union ist das nicht gerade hilfreich.

Aber es gibt ja noch eine dritte im Bunde: die neue Vize-Kommissionschefin Margrethe Vestager. Sie „ist so, wie die EU gerne wäre: mutig, selbstbewusst, hart in der Sache“, so die „Süddeutsche Zeitung“. Die Aufgaben sind schwer genug. Der neue EU-Haushalt für die Jahre bis 2026 muss aufgestellt werden. Die Gipfel zum neuen Personaltableau zeigten, wie tief die Verwerfungslinien in Europa sind. Zudem muss Europa seinen Platz neu bestimmen, zwischen China mit dem staatskapitalistisch-nationalistischen en Xi Jinping und den USA mit dem protektionistisch-populistischen Donald Trump. Dazu kommt, dass die Briten aus der EU streben - womöglich mit Boris Johnson als Premier.


Alles in allem Virilität im Überfluss auf der politischen Bühne. Oder, um es mit Robert Kagan zu sagen, Marsianer im Überfluss. Seine negative Zuschreibung von Europa als Venus sollte die EU als Kompliment begreifen.