Im Personalpoker um die Besetzung der wichtigsten EU-Posten hatte sich am Sonntagnachmittag in Brüssel - scheinbar - eine Vorentscheidung abgezeichnet. Der Niederländer Frans Timmermans wurde als Topfavorit für die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Präsident der EuropäischenKommission gehandelt. Doch vor allem in den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten stößt Timmermans wegen seines Einsatzes für den Rechtsstaat auf heftige Ablehnung. Es wurde damit gerechnet, dass vor allem Polen und Ungarn beim EU-Gipfel am Abend in Brüssel Widerstand gegen Timmermans leisten würden. Doch der Gipfel startete mit einer mehr als dreistündigen Verspätung erst gegen 21.30 Uhr. Und wurde dann um 23.30 Uhr auch gleich wieder unterbrochen.
Ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte auf Twitter, Tusk werde jetzt bilaterale Gespräche mit den Staats- und Regierungschefs organisieren.
Der EU-Gipfel soll erst wieder aufgenommen werden, wenn die bilateralen Gespräche abgeschlossen sind, teilte der Sprecher mit.
Laut Diplomaten war die Gipfelpause bis 1.00 Uhr früh geplant.
Was Tusk bis Sonntagnachmittag geplant hatte
EU-Ratspräsident Donald Tusk schlug Sonntagnachmittag den Fraktionen des Europa-Parlaments ein Personalpaket vor. Demnach solle Timmermans die EU-Kommission leiten. Die Behörde in Brüssel ist so etwas wie die EU-Regierung. An die europäischen Konservativen würden demnach die Posten des Parlamentspräsidenten und des Hohen Beauftragten für EU-Außenpolitik gehen. Für die Liberalen wäre die Nachfolge von Donald Tusk als EU-Ratspräsident vorgesehen. Unklar blieb zunächst, wer an die Spitze der Europäischen Zentralbank rücken könnte.
Tusk nannte bei dem Treffen mit den Parlamentsvertretern dem Vernehmen nach keine Namen, sondern sagte nur, dass der Posten des Kommissionschefs an einen Sozialdemokraten gehen könnte. Damit war aber offenbar Timmermans gemeint. In Brüssel wurde spekuliert, dass der deutsche CSU-Mann Manfred Weber Parlamentspräsident werden könnte. Als EU-Ratspräsident wurde der amtierende belgische Regierungschef Charles Michel von den Liberalen gehandelt, als EU-Außenministerin Kristalina Georgieva aus Bulgarien, derzeit Chefin der Weltbank. Sie gehört wie Weber der Europäischen Volkspartei (EVP) an. Allerdings wurden auch noch der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde aus Frankreich, genannt.
Würde sich Timmermans durchsetzen, wäre der deutsche CSU-Mann Manfred Weber endgültig mit seinem Versuch gescheitert, die Nachfolge von Kommissionspräsident Juncker anzutreten. Vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron hatte in den vergangenen Wochen alles versucht, um Weber an der Spitze der Brüsseler Behörde zu verhindern. Macron hält Weber für nicht erfahren und nicht charismatisch genug, um die EU-Kommission zu leiten.
Der CSU-Mann, derzeit Chef der konservativen Fraktion im Europa-Parlament, könnte sich allerdings nach Angaben von EU-Diplomaten aussuchen, ob er dem Parlament vorstehen will oder doch lieber als eine Art Super-Kommissar und Erster Stellvertreter von Timmermans in die Kommission wechselt.
Entschiede sich Weber für den Parlamentsvorsitz, böte sich für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Chance, einen ihrer Vertrauten als Kommissar oder Kommissarin nach Brüssel zu schicken. Das könnte möglicherweise Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) oder Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (ebenfalls CDU) sein.
Spitzenkandidat-Prinzip
Sollte Timmermans aufrücken, wäre zumindest der Theorie nach auch das sogenannte Spitzenkandidat-Prinzip gewahrt. Gegen das Konzept hatte sich Frankreichs Präsident Macron in den vergangenen Wochen zu Wehr gesetzt. Der Niederländer Timmermans trat ebenso wie sein konservativer Konkurrent Weber als Spitzenmann seiner Parteienfamilie bei der Europa-Wahl an. Anders als 2014 würde dieses Mal jedoch der Wahlverlierer den Top-Job bekommen. Vor fünf Jahren hatten die Konservativen die Wahl gewonnen, und Juncker wurde Präsident der EU-Kommission. Bei der Wahl vor wenigen Wochen landeten die Sozialdemokraten deutlich hinter den Konservativen, die nun offenbar den Spitzenposten verlieren.
Die Umrisse des Personalpakets wurden beim G 20-Gipfel am Wochenende im japanischen Osaka festgelegt. Bundeskanzlerin Merkel deutete am Samstag in Japan bereits an, dass es zu einer Lösung mit Timmermans an der Spitze der Kommission kommen könnte. „Auf jeden Fall sind die beiden Spitzenkandidaten Teil der Lösung, und das ist ganz wichtig“, sagte Merkel in Osaka. Den Spitzenkandidaten Weber, für den sich Merkel als konservative Regierungschefin einsetzt, erwähnte die Bundeskanzlerin nicht namentlich.
EU-Diplomaten hatten schon im Vorfeld harte Personalverhandlungen beim EU-Gipfel erwartet. Vor allem die osteuropäischen Mitgliedsstaaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei haben massive Bedenken gegen Timmermans. Der ungarische Regierungssprecher erklärte, für die vier Staaten seien weder Timmermans noch Weber akzeptabel. Diplomaten verwiesen jedoch darauf, dass die sogenannten Visegrad-Staaten nicht immer einer Meinung seien.