Die 28 Staats- und Regierungschefs der EU starten einen neuen Anlauf, Ordnung in eine mittlerweile völlig verfahrene Sache zu bringen. Seit Wochen ringen sie um die Besetzung der fünf wichtigsten EU-Posten: die Chefpositionen von Kommission, Rat, Parlament, Zentralbank (EZB) und Außenbeauftragtem. Doch inzwischen herrscht zwischen Parlament und Rat eine Patt-Situation, die nur mehr durch verwinkelte Schachzüge gelöst werden kann – in den Augen vieler Beobachter ist das eine Rückkehr zu alten Machtspielen statt demokratischer Transparenz.
Dreh- und Angelpunkt der chaotischen Situation ist Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Das Parlament hatte auf das Prinzip Spitzenkandidaten gesetzt. Daraus gingen der Deutsche Manfred Weber (Europäische Volkspartei), der Niederländer Frans Timmermans (Sozialdemokraten) und die Dänin Margrethe Vestager (Liberale) als mögliche Nachfolger von Jean-Claude Juncker hervor.
Dabei gibt es aber mehrere „Schönheitsfehler“. So wurde die EU-Wahl ohne transnationale Listen durchgeführt, man konnte in jedem Land „seiner“ Partei bzw. „seinen“ Abgeordneten eine Stimme geben, nicht aber einem der Spitzenkandidaten. Und die alte, gemeinsame Mehrheit von Volksparteien und Sozialdemokraten geht sich im neuen Parlament nicht mehr aus, man braucht also mindestens einen Partner (Grüne oder Liberale). Schon vor den Wahlen hatte nun aber Macron klargemacht, dass er auf keinen Fall Manfred Weber unterstützen werde, auch wenn die EVP wieder zur stimmenstärksten Fraktion werde.
"Beschädigung der Demokratie"
Macrons Beispiel folgten mehrere liberale Amtskollegen und selbst Angela Merkel, die spät, aber doch für ihren Landsmann und CSU-Parteifreund Weber Stimmung machte, ließ es an kräftiger Unterstützung Webers fehlen. Dieser war monatelang auf Wahlkampftour durch Europa gereist und hatte in Sebastian Kurz einen aktiven Wegbegleiter gefunden. Inzwischen hat sich auch Karoline Edtstadler für die österreichische ÖVP-Delegation hinter Weber gestellt. Sie wirft Macron „eine Beschädigung der Demokratie“ vor: „Macrons Wunsch, das EU-Spitzenpersonal völlig intransparent im dunklen Hinterzimmer zu beschließen, ist abzulehnen. Wir werden eine Schwächung des EU-Parlaments nicht zulassen.“
Der Rat, der den Personalvorschlag einbringen muss, konnte sich in qualifizierter Mehrheit nicht auf Weber und auch auf keinen der anderen Kandidaten einigen. Die Saat, die Macron säte, ging auch im Parlament auf. Seit Wochen erscheint es in der Volksvertretung unmöglich, eine Allianz für einen der drei zu finden. Die Frage stellt sich, wer wen vor sich hertreibt: Der Rat das Parlament, indem er die demokratische Lösung blockiert, oder das Parlament den Rat, weil es auf dem Prinzip beharrt und den Staats- und Regierungschefs die Entscheidungsfreiheit nimmt, selbst aber niemanden nominieren kann. Dass hier auf offener Bühne ein Match zwischen Frankreich und Deutschland ausgetragen wird, weisen Macron und Merkel zurück.
Im Rat fielen zuletzt alle möglichen Namen; von Währungsfonds-Chefin Christine Lagarde war die Rede, den Premiers Andrej Plenkovic (Kroatien) oder Leo Varadkar (Irland) und immer wieder Brexit-Verhandler Michel Barnier, der zwar wie Weber zur EVP gehört, aber Franzose ist. Wie immer drängt die Zeit: Das EU-Parlament hat seine entscheidende Sitzung zur Kür eines neuen Präsidenten bereits von kommendem Dienstag auf Mittwoch verschoben. Gibt es vorab keine Einigung, platzt damit das ganze Paket. Für den Parlamentsposten gibt es eine Reihe Anwärter; Guy Verhofstadt (Liberale), Ska Keller (Grüne) werden genannt, theoretisch könnte auch Weber, derzeit EVP-Fraktionsführer im Parlament, zum Zug kommen und dann in fünf Jahren einen neuen Anlauf für die Kommission nehmen. Möglich aber auch, dass Weber als Kompromiss vorerst einmal Vizepräsident der Kommission wird – was sein Kontrahent Timmermans aber jetzt schon ist. Ob die Vorgaben für die fünf Top-Jobs (mindestens zwei Frauen, Ausgewogenheit zwischen kleinen und großen Ländern, Ost und West, Nord und Süd) zu erfüllen sind, ist mehr als fraglich.
Vielleicht wird das alles ja gerade in Osaka ausgedealt, wo die Hauptakteure inklusive Juncker und Ratspräsident Donald Tusk heute noch beim G-20-Gipfel zusammensitzen. Die morgige Debatte, an der nun zum zweiten Mal auch Kanzlerin Brigitte Bierlein teilnehmen wird, dürfte jedenfalls einige Zeit dauern. Der Gipfel beginnt am Sonntag mit einem Abendessen, sicherheitshalber hat Donald Tusk für Montag früh gleich auch schon ein Frühstück bestellt.
Andreas Lieb aus Brüssel