Wenn Robert Habeck im Wahlkampf von Parteianhängern angesprochen wird oder eines seiner Bücher signieren soll, legt er den Kopf schief, lächelt milde und hört geduldig zu. Im Gegensatz zu Veranstaltungen der Großparteienkonkurrenz mit deren oft abgeschotteten Spitzenkräften flaniert der Grünen-Chef gerne zwischen den Bierbänken umher. „Wer führen will, muss dienen können. Und wer entscheiden will, muss zuhören können“, sagt Habeck unlängst bei einer Diskussionsveranstaltung im Westen Deutschlands.
Der 49-Jährige umgeht praktisch nur eine Frage, die bei seiner Reise durch Deutschland derzeit überall auf ihn wartet: Will der Parteivorsitzende bei der nächsten Wahl als Kanzlerkandidat antreten?
Ein Philosoph aus dem Norden
Die Frage drängt sich auf. Die Grünen befinden sich im Höhenrausch, liegen bereits in etlichen Umfragen an erster Stelle. Auch im Direktvergleich mit CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer punktet Habeck kräftiger, wenn es um die Frage geht, wer die Nachfolge von Kanzlerin Angela Merkel antreten soll.
Noch windet er sich, erklärt in 100 verschiedenen Versionen sein Weißnochnicht, nennt die Frage auch „Kanzlerquatsch“. Doch den Zug zum Tor hat der Flensburger nachweislich und hätte sich auch nicht an die Parteispitze wählen lassen mit dem gleichzeitigen Verzicht auf ein Ministeramt, wenn er diese Aufgabe scheuen würde. So jedenfalls sagen es Menschen, die mit ihm die Grünen führen.
Bereits einmal in Koalition mit der CDU
Als der Philosophiedoktor von der nördlichsten deutschen Spitze 2012 in Schleswig-Holstein die Grünen in eine Regierung mit der CDU führte, nahm er die Rolle des stellvertretenden Ministerpräsidenten ein und legte nach erfolgreicher Wiederwahl 2018 noch einmal nach und bildete mit CDU und FDP eine Jamaika-Koalition. Doch mit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden Anfang 2018 war auch klar, dass es nur für eine Übergangszeit eine Doppelfunktion geben darf. Auch wenn die Grünen seit Jahren einen radikalen Modernisierungskurs durchleben, ist ihnen die Ämtertrennung heilig. Für Habeck hat man dennoch eine kleine Ausnahme gemacht.
Zwei Realos an der Spitze
Habeck ebenso wie die Co-Vorsitzende Annalena Baerbock fliegen die Herzen der Jungwähler zu. Beide werden dem realpolitischen Flügel der Grünen zugerechnet. Dieses Detail ist nicht unwesentlich. In der Vergangenheit musste immer auch ein Vertreter der „Fundis“ in der Doppelspitze vertreten sein. Doch Fundamentalisten, die mit radikaler Politik die Wähler der Mitte abschrecken könnten, sind in der Spitze derzeit abwesend. Die Selbstzerfleischung der früheren Jahre scheint vorerst überwunden. Die Partei steht geschlossen hinter ihrer Führung. Denn Habeck erreicht ähnlich wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann wertkonservative Kreise, die sich in der Union unter Merkel nicht mehr wiederfinden.
Vor allem aber der Klimaschutz und die Diskussion um den digitalen Wandel haben den Grünen Zulauf gebracht. Habeck sieht darin jedoch eine Gefahr für die Partei. „Wir laufen in eine Falle, wenn wir glauben, dass nur junge Politiker Politik für junge Leute machen können.“
Der Schriftsteller wirkt wie ein Magnet auf das bürgerliche Publikum in den Großstädten – ohne selbst in bürgerlichen Attitüden zu verfallen. Auf Veranstaltungen jubeln ihm auch Menschen mit Laptops in der Hand, schicker Kleidung und aus teuren Altbauwohnungen zu. Habeck will sie erreichen, er will keine Politik mehr für die grüne Urklientel machen. Das habe er in seiner Zeit als Landwirtschaftsminister in Kiel gelernt. Dort habe er Politik machen müssen, für „Leute, die mich doof finden“, erzählt Habeck gerne. Er, der Anzüge und Krawatten meidet, in Turnschuhen auftritt und für den einige Medien den Vergleich Erdkundelehrer aus der Wohngemeinschaft gefunden haben.
In den Umfragen auf Platz eins
In den im Juni veröffentlichten Umfragen landeten die Grünen bei den Instituten Infratest dimap und Forsa inzwischen vor CDU/CSU auf Platz eins. Bei Emnid liegen Union und Grüne gleichauf, die Forschungsgruppe Wahlen sieht die Union noch knapp vor den Grünen. Der Höhenrausch hat aber auch viel mit der Schwäche der Großen Koalition und ihren Spitzenkräften zu tun. Im direkten Vergleich zwischen Habeck und Kramp-Karrenbauer würden sich die Deutschen deutlich für den Grünen als Kanzler entscheiden. Dieses Ergebnis hat das Civey-Institut für die „Welt“ herausgefunden.
Bei der Umfrage fällt auf, dass Habeck bei den grünen Anhängern 90 Prozent Zustimmung erhält, während AKK bei Union-Wählern nur 55 Prozent erreicht. Bei den Wählern der SPD und der Linken holt Habeck sogar die absolute Mehrheit, liegt also deutlich vor den parteieigenen Spitzenkräften. Ebenso deutlich ist das Gefälle bei den Jungwählern bis 30 Jahren, hier liegt die CDU-Vorsitzende über alle Parteien hinweg nur bei 15 Prozent Zustimmung.
Habecks Popularität entspringt nach Aussage von Meinungsforschern aus seiner Art, sich nicht hinter Sprachschablonen zu verschanzen. Ihm nehme man seine Aussagen ab. Und noch etwas werde positiv gesehen: Habeck gibt offen zu, wenn er einmal etwas nicht weiß.
Ingo Hasewend