Unmittelbar nach der Europawahl beginnt sich in Brüssel das Personalkarussell zu drehen. Mit der EU-Wahl am 26. Mai steht fest, welche Partei mit ihrem Spitzenkandidaten den Anspruch auf den nächsten EU-Kommissionspräsidenten stellt, laut Umfragen dürfte es die EVP mit Manfred Weber schaffen. Der EU-Kommissionschef ist aber nur Teil eines viel größeren Pakets, das dann geschnürt werden muss.
Neu zu besetzen sind auch die Posten des EU-Ratspräsidenten, also eines Nachfolgers für den derzeitigen Amtsinhaber Donald Tusk, dessen Mandat am 30. November endet. Der Konservative Tusk selbst gilt als möglicher Kandidat für die Präsidentenwahl in seiner Heimat Polen im Mai 2020.
Darüber hinaus geht es um den Posten des Präsidenten der Euro-Gipfel, den Tusk aktuell in Personalunion innehat, um den nächsten Hohen Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik (derzeit Federica Mogherini) und um einen Nachfolger für EZB-Präsident Mario Draghi. Und das neu gewählte Europaparlament muss natürlich auch wieder bei der konstituierenden Sitzung Anfang Juli seinen Präsidenten (derzeit Antonio Tajani) wählen.
Laut Insidern müsste das Personalpaket bereits im Juni in seinen Grundzügen stehen, wenn alles im Zeitplan verlaufen soll. Tusk selbst beruft schon am 28. Mai einen EU-Sondergipfel ein, um die Personalentscheidungen im Lichte der Ergebnisse der Europawahl zu diskutieren. Auch die Vorsitzenden der politischen Fraktionen im Europaparlament sollen bereits drei Tage nach der EU-Wahl in Brüssel zusammenkommen und mögliche Mehrheiten für die Wahl des Kommissionspräsidenten ausloten.
Der Nachfolger von Jean-Claude Juncker braucht im Europaparlament eine einfache Mehrheit der EU-Abgeordneten - mindestens 376 der 751 Stimmen. Diese zu erzielen dürfte im Vergleich zu den Vorjahren schwieriger werden, denn laut Umfragen werden EVP und Sozialdemokraten zusammen über keine Mehrheit mehr verfügen.
Weber, der sich selbst nicht mit den Stimmen der Rechten zum Kommissionspräsidenten wählen lassen will, würde dann voraussichtlich auch die Unterstützung anderer politische Gruppierungen wie der Sozialdemokraten, der Liberalen - mit oder ohne der französischen Präsidentenpartei La Republique en Marche - oder der Grünen brauchen. Erst nach seiner Wahl im EU-Parlament, die für Mitte Juli vorgesehen ist, könnte der designierte Kommissionschef in der Sommerpause sein Team an Kommissaren zusammenstellen, das dann im Herbst vom EU-Parlament noch abgesegnet werden muss.
Der nächste EU-Kommissionspräsident braucht zuvor auch die Unterstützung von mindestens einer qualifizierten Mehrheit der 28 EU-Staats- und Regierungschefs: Sie sollen bereits beim Gipfel am 20./21. Juni in Brüssel grünes Licht geben, aber auch andere Posten wie den nächsten Ratspräsidenten, den EU-Außenbeauftragten und den EZB-Chef fixieren. Als möglicher Kandidat für den Hohen Vertreter gilt etwa der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans, derzeit Junckers erster Stellvertreter in der EU-Kommission. Als Anwärter für den Ratspräsidenten werden etwa der liberale niederländische Premier Mark Rutte oder die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite gehandelt. Doch haben es die EU-Personalbesetzungen so an sich, dass Kandidaten auch frühzeitig "verbrannt" werden können und Außenseiter oft in letzter Minute auftauchen. Ziel ist es, einen möglichst ausgewogenen Kompromiss unter den Ländern und den Parteien zu finden - Hinterzimmerdeals gehören da dazu.
Als Kandidaten für Draghis Nachfolge an der Spitze der EZB gelten neben dem deutschen Bundesbank-Chef Jens Weidmann die Gouverneure der Zentralbanken von Frankreich und Finnland, Francois Villeroy de Galhau und Olli Rehn, sowie das französische Direktoriumsmitglied Benoit Coeure. Tusks Amtszeit endet am 30. November, Draghis Mandat läuft am 1. November aus. Die reguläre Amtszeit der Juncker-Kommission endet am 31. Oktober. Für das Amt des EU-Parlamentspräsidenten werden dem italienischen Konservativen Tajani Ambitionen für eine weitere Amtszeit nachgesagt, einige Sozialdemokraten wollen dagegen lieber eine Frau an der Spitze des EU-Parlaments sehen.
Verzögerungen sind aus heutiger Sicht aus mehreren Gründen wahrscheinlich. So könnte eine Mehrheit für die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten im Europaparlament nicht leicht zu finden sein. Bräuchte etwa Weber für seine Wahl auch die Liberalen und die Grünen, werden sich diese Parteien die Unterstützung möglichst teuer "abkaufen" lassen. Außerdem müssen sich die EU-Kommissare nach der Sommerpause einem Hearing im EU-Parlament stellen. Die Abgeordneten haben in der Vergangenheit bereits mehrfach schwache Kandidaten abgelehnt. Mit den derzeitigen EU-kritischen Regierungen in Italien, Polen und Ungarn dürfte für Konflikt gesorgt sein. Ein weiterer Faktor ist die Frauenquote: Weber selbst hat erklärt, er wolle die Hälfte seiner Kommission mit Frauen besetzen.
Letztlich sorgt auch der auf Ende Oktober aufgeschobene Brexit für Unsicherheiten: So gibt es im EU-Parlament auch Stimmen, die alle wichtigen Entscheidungen auf die Zeit nach dem britischen EU-Austritt verschieben wollen. Aber ob Großbritannien ab November tatsächlich nicht mehr EU-Mitglied ist, ist ebenfalls noch unsicher. Und bei dem Brexit-Aufschub im April musste sich Großbritannien verpflichten, "getreu der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit" keine wichtigen EU-Entscheidungen aus innenpolitischen Gründen zu blockieren.