Herr Ministerpräsident, Sie empfangen heute den österreichischen Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Was verbindet Sie mit ihm?

VIKTOR ORBÁN: Wir kennen uns lange. Seine Partei kannte ich noch früher als ihn. Ich war Ministerpräsident von Ungarn, als Wolfgang Schüssel die Entscheidung traf, mit der FPÖ eine Regierung zu bilden. Da begann eine verabscheuenswürdige internationale Kampagne gegen Österreich und ich war neben den Bayern der einzige Ministerpräsident, der damals offen zu Österreich stand. Ich empfing Bundeskanzler Schüssel in Budapest, während in Europa die Türen zugingen. Und da begann ich mich für diese Partei, die FPÖ zu interessieren. Was können die wohl wissen, wenn man so viel Angst vor Ihnen hat? Strache kam später ins Blickfeld. Er tut sich aus dem europäischen politischen Feld hervor. Die traditionelle europäische Elite ist nämlich dekadent.

Was meinen Sie mit dekadent?

Dekadent in dem Sinne, dass die Elite nicht an die Kraft politischen Handelns glaubt. Die wollen einfach die Pedale weitertreten wie bislang und sie sperren sich, wenn etwas Neues kommt.

Vielleicht, weil das Neue alte Kleider trägt.

Das Problem der europäischen Eliten ist: Sie glauben nicht an die Kraft der Person, der Führungspersönlichkeit. Sie halten Führungspersönlichkeiten für gefährlich, die in der Lage sind, Menschen zu begeistern.

Die Skepsis hat vermutlich mit geschichtlicher Erfahrung zu tun.

Es geht um eine bürokratische Politik, die sich in Europa breitgemacht hat. Strache passt nicht in diese Reihe. Er ist vieles, aber nicht dekadent. Er spricht nicht diese politisch korrekt getaufte Sprache. Er sagt, was er denkt, und dafür steht er auch. Manchmal verliert er dabei, manchmal gewinnt er.

Ist Ihnen Strache näher als Kurz?

Vom Alter her.

Sie und Kurz waren sich schon einmal näher. Der Kanzler ist von Ihnen abgerückt. In Budapest sprach man von „Verrat einer Freundschaft“. Haben Sie das auch so empfunden?

Verraten zu sein, das ist ein Grundgefühl, wenn man Ungar ist. Mitteleuropa ist ein kompliziertes Gebiet der europäischen Welt. Noch dazu haben wir Ungarn eine romantische Neigung, das macht uns manchmal naiv. Die Ungarn haben ein großes Herz. Und sie gehen oftmals vom Herzen und nicht vom Verstand aus. In der Politik kann das trügerisch sein. Sie sind dann überrascht, wenn jemand, zu dem man ein freundschaftliches Verhältnis gehabt hat, beginnt, nicht dem Herzen, sondern den Interessen zu folgen.

Sie meinen, Kurz ist abgerückt, weil er es für opportun erachtet hat?

Es ist auch nicht leicht, Österreicher zu sein. Das kann ich verstehen. Einer der kompliziertesten Jobs ist der des österreichischen Bundeskanzlers. Es ist nicht leicht, seinen Platz zu definieren. Ist es Mitteleuropa? Ist es die Welt der Deutschsprachigen? Oder eher ein bisschen Italien? Eine katholische Welt oder eher eine moderne, postkatholische, liberale Welt? Das alles gibt es in Österreich gleichzeitig. Deshalb sind die österreichischen Bundeskanzler nach meiner Erfahrung immer sehr sophistcated. Ich beobachte sie- Es gibt einige, von denen ich viel gelernt habe. Ich lerne sowieso gerne.

Orban über den Koalitionswechsel von Sebastian Kurz: „Politischer Handstreich, der ins Lehrbuch der Ministerpräsidenten kommt“
Orban über den Koalitionswechsel von Sebastian Kurz: „Politischer Handstreich, der ins Lehrbuch der Ministerpräsidenten kommt“ © (c) AP (Ronald Zak)

Von wem haben Sie gelernt?

Von Schüssel. Von Helmut Kohl.

Ist es nicht eine Pointe der Geschichte, dass Schüssel Sie jetzt kontrollieren und darüber befinden muss, ob Sie weiter Mitglied der Europäischen Volkspartei bleiben können?

Mein Gefühl gegenüber Schüssel ist freundschaftlich. Und Freundschaft verlangt Fairness. Ich bin mir also sicher, dass er dieser Linie folgen wird. Aber wie man bei uns in Ungarn sagt: einmal oben, einmal unten. Dass Schüssel einmal kontrolliert wurde, nährt die Hoffnung in mir, dass in zehn Jahren wir die kontrollieren, die uns jetzt kritisieren.

Hätten Sie sich von Österreich mehr ausgleichende Dankbarkeit erwartet?

Dankbarkeit ist hier kein gutes Wort. Ich dachte mir, nachdem Österreich gewissermaßen zu Mitteleuropa gehört, folgt daraus eine Art regionales Zusammengehörigkeitsgefühl. Denn solche europäischen Konflikte kommen und gehen. Aber Österreich bleibt, wo es ist, und Ungarn auch. Ich denke, die Beziehung der beiden Länder stellt eine besondere Qualität dar. Die Geschichte verleiht ihr einen besonderen Wert. Das darf für keinen europäischen Konflikt geopfert werden. Blind bin ich aber auch nicht. Ich weiß, dass die österreichische Volkspartei, die Partei des Kanzlers, eine große Partei ist. Es leben da verschiedene Strömungen zusammen. Diese Strömungen denken nicht identisch über Ungarn. Ich bin einer der größten Anhänger des Bundeskanzlers. So jung so viel Vertrauen zu erlangen und einen so mutigen Handstreich bei den Wahlen zu machen: Das war schon ein professionelles Meisterwerk, das kommt ins Lehrbuch der Ministerpräsidenten.

Trotz vieler Gemeinsamkeiten in der Migrationsfrage will Kurz die konservative Mitte nicht aufgeben. Sie schon. Sie suchen die Allianz mit den Nationalisten. Beschwören Sie damit nicht den endgültigen Bruch mit Europas Christdemokraten herauf?

Das Risiko besteht. Die Geschichte kann so ausgehen. Das wollen wir aber nicht. Was passiert? Die Christdemokraten, besonders in Deutschland, rücken in Europa nach links. Wenn das so weiter geht und sie laufend eine Koalition mit der Linken, den Sozialisten, eingehen, dann müssen sie Kompromisse schließen und sie verlieren ihre Identität, ihre Werte. Die Christdemokraten, die müssen schon christlich sein. Sie müssen auch die christliche Auffassung von Familie und von nationaler Identität vertreten. Viele christdemokratische Parteien sind davon weit abgedriftet, weit hinein ins Linke. In den neuen Parteien, die an den Rändern hochkommen, wie man bei Ihnen zu sagen pflegt, da sehe ich große Möglichkeiten. Denn Sie nennen sich zwar nicht Christdemokraten, vertreten jedoch christliche Werte.

Sie meinen wirklich, einer Frau Le Pen gehe es um christliche Werte?

Frankreich ist ein laizistischer Staat, so ist auch die Politik von Le Pen. Sie wollen nicht den Vormarsch des Islam. Sie sehen eine Priorität bei der christlichen Kultur, sie schützen die Familie und den Nationalstaat. Ich sympathisiere damit, aber in der Volkspartei löst das Kritik aus, weil die EVP nach links möchte. Das wird zwei Folgen haben: erstens Identitätsverlust, und zweitens, dass sie wirtschaftlich ein sozialistisches Europa bauen werden, wo die internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren gehen wird. Hier in Ungarn haben wir in einer sozialistischen Wirtschaft gelebt, 45 Jahre lang. Es hat nicht geklappt. Der Versuch lohnt sich nicht. Die Zusammenarbeit mit Macron und den Linken importiert immer mehr sozialistische Elemente. Steuererhöhungen, Überregulierung, eine Heerschar von Bürokraten und eine Vergemeinschaftung der Schulden. Österreicher und Deutsche werden den Preis dafür zahlen.

Begrüßung in der Bibliothek des alten Karmeliter Klosters hoch über der Donau: mit Hubert Patterer und Stefan Winkler (rechts
Begrüßung in der Bibliothek des alten Karmeliter Klosters hoch über der Donau: mit Hubert Patterer und Stefan Winkler (rechts © (c) Miniszterelnöki Sajtóiroda / S

Und dass die Christdemokraten ihrerseits ihre Identität im Bündnis mit den Rechtsparteien verlieren könnten, das befürchten Sie nicht?

Schauen wir, was in Österreich passiert. Ich sehe nicht, dass das eingetreten wäre. Ich schlage Europa das vor, was in Österreich passiert. Europa sollte das Modell Österreich übernehmen. Die rechte Mitte arbeitet mit der Rechten zusammen. Von Budapest aus betrachtet, scheint das erfolgreich zu sein. Es gibt Stabilität, ich sehe die wirtschaftlichen Vorhaben, die Steuersenkung, es hat den Anschein, dass in Österreich gute Dinge passieren.

Der Kanzler muss sich im Wochenrhythmus für rassistische und neonazistische Tollheiten in der FPÖ rechtfertigen.

Ich habe es ja gesagt, Österreich ist ein schwieriger Ort. Gleichzeitig lässt sich auch nicht leugnen, dass ganz Europa von einem Netzwerk überspannt wird. Ich bezeichne es als liberales Netzwerk.

Was soll das sein?

Das ist ein Netzwerk aus NGOs, Thinktanks, Medien, linken Akademikern, Universitäten und Politikern. Und wenn die sich einen Politiker vorknöpfen, dann machen sie ihm das Leben sehr schwer. Eben deshalb achtet ein Teil der rechtsgerichteten Politiker stets darauf, nicht auf Antipathie dieses Netzwerks zu stoßen. Und wegen dieser Taktik ist die Fähigkeit, aus dem Herzen zu sprechen, in der europäischen Politik untergegangen.

Sie meinen die Freiheit des unkorrekten Redens.

Man muss sich jedes Wort auf die Goldwaage legen. Ich dagegen lebe im Luxus politischer Freiheit. Ich sage, was ich denke, weil ich vom ungarischen Volk starke Unterstützung erfahre. Man konnte uns, obwohl die Absicht bestand, von Brüssel aus nicht stürzen. Faschismus, Nationalismus, Populismus, das sind alles Ausdrücke, die vom liberalen Netzwerk als politische Knüppel benutzt werden. Es wird verunmöglicht, über die Liebe zum Vaterland oder die Befolgung der Lehre Jesu zu sprechen.

Karel Schwarzenberg sagt, er habe nicht Angst vor dem Islam, sondern vor den eigenen menschenleeren Kirchen.

Trotzdem werden auch Sie spüren, dass ein Großteil der Europäischen Politiker in dieser Athmosphäre gefangen ist. Man kann nicht mehr über traditionelle europäische Werte reden, nur verquält und vorsichtig. Und so geht das Wesentliche verloren. Schleichend verschiebt sich die gesamteuropäische Politik in Richtung liberaler Politik.

Wir lernen: Liberal ist ein Schimpfwort für Sie.

Es ist kein so schlechtes Wort, es hatte große Zeiten. Auch in Ungarn. Von 1867 bis 1914 gab es eine große Epoche der Liberalen, mehr noch, bereits 1848/49. Das hat Ungarn nach oben gebracht. Aber Liberale greifen heute bereits die Freiheit an. Sie wollen vorgeben, worüber und wie man reden kann.

Sie haben in jungen Jahren als liberaler Bürgerrechtler begonnen. Heute sind Sie Verfechter einer „illiberalen Demokratie“. Was ist mit Ihnen passiert?

Ich bin auf Linie. 1990 wollten wir ebenfalls Freiheit. In 1990 bedeutete das Liberalismus. Jetzt, 30 Jahre später, rücken Liberale der Freiheit zu Leibe.

Was soll das sein, eine illiberale Demokratie?

Es gibt drei Punkte, die den Unterschied zum Liberalen ausmachen: erstens die Überzeugung, dass die Familie fundamental ist. Die Grundlage der Familie heißt: ein Mann und eine Frau. Und das muss auch geschützt werden. Liberale sagen, nein. Die Familie ist für sie ein Gesellschaftsspiel: mal so, mal so. Zweitens: in der Kultur sagen wir, dass das kulturelle Leben eines jeden Landes zwar vielfältig ist, aber es gibt überall eine führende kulturelle Tradition. Dafür gibt es ein deutsches Wort: Leitkultur. In Ungarns ist das die christliche Kultur. Die anderen Kulturen respektieren wir. Aber die eigene hat für uns eine herausragende Rolle, und es ist unsere Verantwortung, das zu bewahren.

Tun das die Liberalen nicht?

Die Liberaldemokraten sagen etwas anderes. Sie sagen, alle Kulturen sind gleichwertig, es darf keine Unterschiede geben. Ihre Grundlage ist der kulturelle Relativismus. Und das Dritte, was wichtig ist: Liberale Demokraten sind für die Einwanderung. Wir Illiberale sind gegen Zuwanderung. Illiberale könnte man auch als christlich-demokratisch bezeichnen. Aber das ist hier so eine Kampfsprache. Liberal und illiberal das ist wie beim Armdrücken

Sie sagen also: Demokratie ist eine Verfahrensweise, die außer Streit stehe, und liberal ist eine Ideologie.

Ja, eine Ideologie und eine darauf gebaute Regierungspraxis. Ich bin ein alter Hase in dem Job, ich kann mich noch daran erinnern, wie es vor 30 Jahren war. Da stand ein Sozialdemokrat auf und sagte, ich bin Sozialdemokrat, und ich will die Sozialdemokratie. Und dann stand ein Christ auf und sagte, ich bin Christ, und ich will eine christliche Demokratie. Und dann erhob sich ein Liberaler und sagte, ich bin liberal und will eine liberale Demokratie. Vor 30 Jahren sprachen wir noch diese Sprache. Das liberale Netzwerk stellte eine neue Formel auf und baute darauf einen Feldzug. Wer ein Demokrat ist, muss liberal sein. Im Westen sagt daher sowohl ein Sozialdemokrat als auch ein Christdemokrat, ich bin ein Demokrat und liberal. Das war ein Kampf der Sprachen, der von den Liberalen gewonnen wurde. Sozialdemokraten und Christdemokraten haben verloren. Und wenn man den Kampf um die eigene Sprache nicht gewinnt, gewinnt man auch das Ringen um die Inhalte nicht. Wenn Christdemokraten vorgeben, liberal zu sein, dann ist das die Quadratur des Kreises.

Nach unserem Verständnis bedeutet liberal rechtsstaatlich und illiberal autoritär. Und autoritär heißt: Man stellt die freien Medien, die unabhängige Justiz und die freie Wissenschaft unter den Einfluss der Politik. Meinen Sie das?

Ja. Die Liberalen haben diesen sprachlichen Kampf auch in Österreich gewonnen. Freiheit, Pressefreiheit, Medienfreiheit, das sind keine liberalen Kategorien. Das sind Vorbedingungen der Demokratie. Die gehören allen. Die Liberalen haben sie gekapert. Hier geschieht das noch viel brutaler als bei Ihnen. Wenn Liberale in Polen, in der Slowakei oder Ungarn die Wahlen verlieren, heißt es gleich, das ist das Ende der Demokratie. Hier kannst du nur dann Demokrat sein, wenn du ein Liberaler bist. Das ist eine Vergewaltigung des Geistes.

Welches Europa wollen Sie eigentlich?

Wir müssen sehr wachsam sein, es gibt eine ernste Gefahr. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, können sich die Schicksale des westlichen und des mittleren Europa trennen. Das kann wegen der Migration und ihrer Folgen passieren, nicht morgen früh, aber in zehn, 15 Jahren. Die Kinder, die jetzt auf die Welt kommen, Christen wie Muslime, werden in 18 Jahren erwachsen sein. Und die westlichen werden in 18 Jahren nicht so sein, wie wir. Das werden nicht einfach politische Unterschiede sein, sondern zivilisatorische. So wird es sehr schwierig, Europa zusammenzuhalten. Ich denke unentwegt darüber nach, wie man diese tiefen Unterschiede überwinden kann. Wir müssen wieder den Weg der europäischen Einheit finden. Ich träume von einem solchen Europa, wo West- und Mitteleuropäer sich gleich wohl fühlen. Wobei sich ihr Leben nicht voneinander entfernt, sondern zusammen wächst. Fragen Sie mich nicht, wie das gelöst werden kann. Ich habe noch keine Antwort darauf gefunden.

Warum würdigen Sie den Christdemokraten Jean-Claude Juncker zur Karikatur herab?

Ich habe persönlich ein gutes Verhältnis zu Jean-Claude. Ich anerkenne seine Leistungen an. Aber zwei ernsthafte Fehler haften seiner Amtszeit an. Der eine ist die Migration. Es wurden laufend europäische Lösungen versprochen, nichts davon wurde eingelöst. Der zweite Fehler ist, dass Juncker sich gegen den Willen der Briten zum Kommissionspräsidenten wählen hat lassen haben. Das war ein Beitrag zum Gefühl der Engländer, missachtet zu werden.

Wollen Sie damit sagen, dass Juncker schuld am Brexit ist?

Auch.

Viktor Orban, Jean-Claude Juncker
Viktor Orban, Jean-Claude Juncker © (c) APA/AFP/THIERRY CHARLIER (THIERRY CHARLIER)

Müssen Sie so reden, um sich daheim Ihre Beliebtheit zu bewahren?

Paradoxerweise ist das Gegenteil der Fall. Die EU hat größte Unterstützung in Ungarn. Das hat keine wirtschaftlichen Gründe, sondern das ist seelischer Natur. Die Ungarn sind verliebt in das Wort Europa. Die sowjetische Besatzung haben sie so verstanden, dass wir aus der Familie gerissen waren. Als wir der Europäischen Union beigetreten sind, dachten alle, wir sind wieder zuhause bei der Familie. Das ist in Ungarn eine sehr starke seelische Verbundenheit. Deshalb hat hier eine europafeindliche Politik keine Chance. Die Ungarn sind unheilbar proeuropäisch.

Warum spürt man es nicht?

Sie mögen die Spitzenpolitiker der EU nicht. Sie haben das Gefühl, das Brüssel den Nationalstaaten keinen Respekt entgegenbringt. Die Ungarn machen einen Unterschied zwischen Europa und den Brüsseler Eurokraten. Sie sagen, Europa würde bessere Spitzenpolitiker verdienen. Und die Migrationspolitik von Brüssel halten sie für ausgesprochen europafeindlich. Sie sehen, dass die Brüsseler Migrationspolitik das Europa zerstört, in das wir uns verliebt haben.

Europa hat doch in der Zuwanderungsfrage mit der forcierten Sicherung der Außengrenzen längst eine Kurskorrektur vorgenommen. Warum stehen Sie trotzdem quer?

Ich sehe und anerkenne solche Anzeichen. Aber auch entgegengesetzte. Die ungarische Sprache ist markant. Wir sehen Verrat, wir sehen, dass es in Brüssel Spitzenpolitiker gibt, die die Migration nicht verhindern, sondern sogar fördern. Wenn wir bei EU-Gipfeln ein Dokument verabschieden, wo es um Migration geht, dann schlagen wir Mitteleuropäer immer vor, reinzuschreiben, dass die Migration gestoppt werden muss.

Wer sind die Brüsseler?

Die Kommission und einige EU-Staaten. Die Franzosen, die Deutschen, die Skandinavier, die Beneluxländer. Sie wollen die Migration managen. Und wir Mitteleuropäer wollen sie aufhalten.

Das geht nicht, sagen Kritiker. Außer mit Gewalt.

Das ist ein wichtiger Punkt. Wir sind nicht historisch materialistisch. Ich glaube nicht, dass von vornherein verkündet werden kann, was geht und was nicht. Man kann da den menschlichen Willen nicht ausklammern. Wenn wir etwas wollen, dann gibt es eine Chance. Ungarn hat die Migration auf dem Landweg aufgehalten, Salvini hat die über das Meer gestoppt. In der ungarischen Auffassung ist das also sehr wohl möglich. Wir haben eine andere Erklärung: Man will die Migration deshalb nicht stoppen, weil die Linke in Wirklichkeit Wähler importiert. Denn die, die als Migranten hereingebracht werden, werden nie für christdemokratische Parteien stimmen, und früher oder später kriegen sie doch die Staatsbürgerschaft, früher oder später werden sie das Stimmrecht haben. So erlangt die Linke zusätzlich eine große importierte Wählergemeinschaft.

Sie sagen, Salvini sei für Sie ein Held und die wichtigste Person Europas. Ganz verstehen wir das nicht. Der italienische Vizepremier will doch ganz anderes als Sie. Zum einen befürwortet er die Verteilung der Flüchtlinge, und zum anderen hintertreibt er die Bemühungen der EU, die Außengrenzen im Süden durch verstärkte europäische Einheiten zu sichern.

Schauen wir, wo wir uns einig sind. Wir sind uns einig, dass die Grenzen beschützt werden müssen und die Migration auf null gebracht werden muss. Wir sind uns auch darin einig, dass die Grenzen von denen geschützt werden müssen, die das können. Wir Ungarn haben unsere eigenen Grenzen geschützt und die Italiener tun das jetzt auch. Wir wollen dieses Recht nicht transferieren, weil wir das gut machen. Und wenn es Hilfe braucht, wie sie auch Ungarn brauchte, da habe ich nicht Brüssel angerufen, sondern Warschau, Prag, Bratislava und Wien. Und da habe ich auch Soldaten und Polizisten bekommen. In Brüssel würde man immer noch diskutieren, ob Sie kommen dürfen.

Matteo Salvini, Viktor Orban
Matteo Salvini, Viktor Orban © (c) AP (Szilard Koszticsak)

Sie wollen das Migrationsthema Brüssel entreißen. Und dann?

Sie, die Italiener und alle westlich davon befinden sich in einer anderen Lage als wir. Sie haben viele Migranten, wir nicht. Unsere Frage ist nicht jene des Zusammenlebens, sondern wie wir vereiteln, dass diese Frage überhaupt zur Frage wird. Eben deshalb trennt sich die Debatte über Migration in Westen und Osten. Im Westen stellt sich die Frage schon so, wie man mit den Folgen lebt. Und wir sprechen darüber, dass wir nicht wollen, dass es bei uns so losgeht wie bei Ihnen. Das ist eine völlig andere Denkweise. Die, die auf Ihrer Seite sind wie die Italiener, die wollen sich der Migranten entledigen. Das kann ich verstehen. Es ist aber keine gute Lösung, wenn wir sie untereinander verteilen und auch hierher welche gebracht werden, wo es überhaupt keine gibt. Wir sagen, wenn Ihr die illegalen Migranten los werden wollt, dann bringen wir sie nachhause. Wir helfen euch. Teilen wir sie nicht auf, sondern richten wir Ihre Städte wieder her und die Regionen, wo sie gelebt haben. Und dann müssen und können sie auch nachhause schaffen. Das ist ein mutiger Plan, aber möglich. Das würde Europa nicht spalten.

Er mag mutig sein, aber ist es auch christlich? Der Papst sagt, nein. Wir stellen die Frage in einem ehemaligen Karmeliterkloster.

Wir klammern aus, dass Ungarn auch ein protestantischer Land ist, und deshalb ist die Meinung des Papstes hier nicht so vorherrschend wie in einem katholischen Land. Aber dennoch respektieren wir den Heiligen Vater und es ist uns wichtig, was er sagt. Aber was sagt er eigentlich? Er sagt, rettet die Menschen. Warum müssen sie gerettet werden? Weil sie im Wasser ertrinken. Die Frage ist, wie können wir die Zahl der Ertrinkenden senken? Es gibt zwei Vorgangsweisen vor unseren Augen, wir können sie vergleichen. Die Freunde der Migration haben die Zuwanderer laufend gerufen, und viele sind im Wasser ertrunken. Seit Salvini gekommen ist, ist die Zahl der Ankommenden radikal gesunken, und es sterben viel weniger Menschen. Salvini hat im Interesse der vom Heiligen Vater geforderten Politik mehr getan als die, die Einwanderung unterstützen.

Das ist eine kalte Logik, mit der Sie argumentieren.

Wie sprechen aber über Menschenleben. Und Migrationsgegner wie wir verfolgen eine Politik, die weit weniger Menschenleben kostet. Es reicht nicht, das Gesicht eines guten Menschen zu zeigen, wie müssen auch so handeln, dass es gut ist.

Beraubt sich eine Gesellschaft, die sich abdichtet, nicht auch der Weiterentwicklung und Veredelung durch das Potential der Vielfalt? Die geschichtliche Erfahrung lehrt: Abschottung ist das schwächere Konzept.

Diese Gefahr droht in diesem Teil der Welt nicht, denn hier leben wir in einer immensen kulturellen Vielfalt mit Serben, Slowaken, Kroaten, Ukrainern, Juden, Rumänen und Ungarn. Hier fehlt es nicht an kultureller Vielfalt. Wir haben Lateiner, wir haben unsere Calvinisten, unsere Orthodoxen. Das ist eine fantastische Vielfalt, seelisch und kulturell, sie tritt aber innerhalb einer einzigen, christlichen Zivilisation zum Vorschein. Das empfinden wir nicht als Abschottung und auch nicht als Absperrung.

Leiden Sie darunter, dass Sie ein Verfemter sind, oder finden Sie Gefallen daran?

Ich halte das für einen Teil des Schicksals eines Ungarn. Das ist nichts Neues. Seelisch leiden die Ungarn seit Jahrhunderten an diesem Problem. Wir sind bei der Abwehr von Attacken nicht talentiert genug. Die modernen Spielformen der Darstellung, PR, Kommunikation, Branding, all das gelingt uns Ungarn nicht gut genug. Es gibt eine ungarische Mentalität: wenn man uns nicht versteht, versteht man uns nicht. Das ist Ihr Problem.

Behagt Ihnen die Geste?

Nein. Es ist eine kurzsichtige Denkweise, selbst wenn da eine Heldenpose mitschwingt, was verführerisch, aber gefährlich ist. Letzten Endes freut mich also diese Situation nicht und ich möchte, dass wir Ungarn talentierter werden, all das darzustellen, was und weshalb wir machen. Denn das ist eine Erfolgsstory. Wir haben das Land gegen die Migration verteidigt, es droht keine kulturelle Kollision. Wir spielen in der Region eine stabilisierende Rolle. Zu Serben, Slowaken, Rumänen pflegen wir eine gute Nachbarschaft. Wir haben fast Vollbeschäftigung und jedes Jahr mindestens zwei Prozent mehr Wachstum als die Union. All das haben wir als EU-Mitglied erreicht. Das könnte eine europäische Erfolgsstory sein.

Warum erzählen Sie sie nicht und lassen das andere?

Weil man aus ideologischen Überlegungen diesen Erfolg in Brüssel nicht anerkennen will. Es gibt einen alten und sprachlich brutalen Witz, wo diese Situation gut beschrieben wird, der geht so. Was ist der Unterschied zwischen einem Eichhörnchen und einem Stinktier? Die Antwort: Das Eichhörnchen hat eine bessere PR.

Ungarn feiert das 15. Jahr seiner Mitgliedschaft in der EU. Das Land hat stark profitiert, was gibt es zurück?

Es gibt etwas, was wir gar nicht geben müssen, weil man es ohnehin nimmt. Ich rechne rigoros, ich komme aus einem Dorf. Ich möchte wissen, wie es in der Kasse steht. Jedes Jahr kommen etwa vier BIP-Prozente an Geld nach Ungarn, und jedes Jahr werden sieben BIP-Prozente an Geldern rausgebracht, als Dividende großer Unternehmen, die bei uns tätig sind. Das heißt, wir machen hier tatsächlich Gewinne, Westliche aber ebenso. Wir entwickeln uns und sie verdienen mit. Wir geben einen Markt her. Vor allem die Österreicher und Deutschen nützen ihn gut. Das betrachte ich als Win-Win. Zweitens haben wir die Grenzrolle übernommen. Die Ost-West-Grenze verläuft nicht mehr zwischen Österreich und Ungarn, sondern im Osten und Süden von Ungarn. Das ist wertvoll in Zeiten der Migration. Die Schengen-Grenze muss nicht an der österreichischen, sondern an der Südgrenze von Ungarn geschützt werden. Wir geben Europa Sicherheit. Und wir geben Europa Kultur. Wenn unsere Gäste schon aus Österreich sind, erinnere ich an die Musik, an Liszt, Bártok, Ligeti und Kurtág.

Sind Sie ein Populist?

In Amerika pflegt man darauf stolz zu sein, Europa betrachtet das als etwas Verwerfliches. Ich stehe auf der Grundlage eines amerikanischen Satzes, der das Wesen dessen erfasst, was man in Europa als Populismus bezeichnet. Es geht auf Abraham Lincoln zurück und klingt im Englischen besser als im Deutschen. From the people, by the people, for the people.

Was schätzen Sie an Trump?

Die Unerschütterlichkeit. Das ist die wichtigste Ähnlichkeit. Wir müssen das machen, woran wir glauben, und so bewahren wir auch die Unterstützung der Menschen.

Mögen Sie Wien?

Ich achte Wien.

Was fehlt zum Mögen?

Ich respektiere Wien, ich schätze Wien, aber ich würde nie von Budapest nach Wien ziehen. Nicht, weil Budapest eine ungarische und Wien eine österreichische Stadt ist, sondern weil Wien für das ungarische Temperament zu kühl ist.

Budapest darf nicht Wien werden?

Das multikulturelle Wien zieht uns nicht an, wenn Sie das meinen. Wir reihen es nicht unter die Sehenswürdigkeiten. Wir schauen es uns an, aber wollen es nicht einführen. Budapest kann nicht Wien werden, es muss nicht mit Wien wetteifern, denn nur Wien kann in der Frage gewinnen, wer das bessere Wien ist. Budapest hat eine andere Kultur, es ist pulsierender, schriller, kreativer. Budapest muss Budapest sein.