Wegweisendes Votum in London: Das britische Unterhaus stimmte heute zum dritten Mal, mit 344 zu 286 Nein-Stimmen, gegen das umstrittene Brexit-Abkommen mit Brüssel. Der Deal ist damit endgültig vom Tisch.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat nach der neuerlichen Ablehnung des Brexit-Vertrags durch das britische Unterhaus einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs für 10. April einberufen. Bei ihrem jüngsten Gipfel haben die EU-Staaten den 12. April als neuen Austrittstermin für Großbritannien beschlossen, sollte dieses den Austrittsdeal nicht annehmen.
Am Nachmittag und Abend protestierten Tausende Brexit-Befürworter für einen möglichst raschen Austritt. Sie plädieren für ein starkes Großbritannien und erinnern sich sentimental an Zeiten, "in denen das Land noch Eier hatte":
Die EU-Kommission hält jetzt einen britischen EU-Austritt ohne Vertrag am 12. April für wahrscheinlich. Dies teilte ein Kommissionssprecher am Freitagnachmittag mit. Man bedauere das Votum, erklärte der EU-Kommissionssprecher. Damit gelte die vorige Woche mit der EU vereinbarte Verschiebung des Brexits vom 29. März bis zum 12. April. Nun sei es an Großbritannien, vor diesem Datum zu erklären, wie es weitergehen könnte.
"Die EU wird vereint bleiben", betonte der Sprecher. Die Gemeinschaft sei auf einen Austritt Großbritanniens ohne Vertrag gut vorbereitet. Die Vorteile des Austrittsvertrags, darunter die vorgesehene Übergangsphase bis Ende 2020, würden bei einem Austritt keinesfalls mit angeboten. Einzelne "Mini-Deals" seien keine Option.
"Totalversagen in Großbritannien"
Auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hält einen "geordneten EU-Austritt" Großbritanniens für "immer unwahrscheinlicher". Österreich sei aber jedenfalls auch auf einen Hard Brexit gut vorbereitet.
Der Europaabgeordnete und ÖVP-Spitzenkandidat Othmar Karas sagte am Freitag in Brüssel zur Londoner Abstimmung: "Das ist das Totalversagen der politischen Klasse des Vereinigten Königreichs. Das britische Parlament ist gegen alles. Es gibt keine positiven Mehrheiten für irgendetwas. Die parteipolitischen Spiele sind alle gescheitert. Jetzt muss das die britischen Regierung bis zum EU-Gipfel in zehn Tagen sagen, was sie will. Europa kann nicht endlos auf Großbritannien warten."
SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder ist skeptisch zu einer möglichen Verschiebung. "Europa kann nicht ewig zuwarten und auch ein dauerndes Verschieben des britischen EU-Austritts ohne Lösungsplan ist keine Option", teilte er in einer Aussendung mit. "Statt weiter Chaos und immer mehr Fragezeichen zu produzieren, müssen May und die britische Regierung so schnell wie möglich klarstellen, was sie wollen."
In ihrer ersten Reaktion hoffte Premierministerin Theresa May offenbar immer noch darauf, dass das Parlament am Montag zu neuen Wegen mit der Regierung finden könnte, auch wenn die dritte Ablehnung im Unterhaus "schwere Folgen" haben werde. Doch die spontanen Reaktionen der Abgeordneten zeigten, dass sie nicht mehr deren Vertrauen hat. Offen wurden jetzt bereits Neuwahlen gefordert. Wenn sich das Parlament nicht für einen Weg nach vorne entscheiden könne, sei dies die einzige Option, sagt der Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn.
Blitzausstieg oder Langzeitperspektive
Gegner und Befürworter des Austrittsvertrags verwiesen zuvor auf die historische Tragweite der Entscheidung. Da das Abkommen erneut durchfiel, muss die britische Regierung der EU bis zum Sondergipfel am 10. April erklären, wie die Brexit-Frage geklärt werden soll bzw. ob man ein neues Referendum oder Neuwahlen ins Auge fasst, sonst kommt es am 12. April zum Hard Brexit, den sich weder die Briten noch die EU wünschen können.
Die Abgeordneten arbeiten bereits auf eigene Faust an einem Plan B zu Mays Brexit-Deal. Am Montag soll das Parlament eine zweite Runde an Testabstimmungen über Alternativen zu dem Abkommen abhalten. Bei der ersten Runde hatten sich die Parlamentarier noch nicht auf eine Option einigen können - alle acht zur Abstimmung stehenden Vorschläge wurden abgelehnt. Die meisten Ja-Stimmen entfielen dabei auf ein zweites Referendum über den EU-Austritt und auf den Vorschlag, nach dem Ausscheiden in einer Zollunion mit der EU zu bleiben.
Plan B
Beides scheint nun nicht mehr ausgeschlossen. Auch Brüssel hat bereits Offenheit signalisiert für Verhandlungen über eine engere Anbindung Großbritanniens an die EU. Auch die Hoffnungen auf eine zweite Volksabstimmung und eine Abkehr vom Brexit sind nicht ganz erloschen.
Die EU hat ja signalisiert, einer Verlängerung der Austrittsfrist nur zuzustimmen, wenn eine Perspektive in Sicht ist. Falls sich eine solche auftut, bedeutet das wohl eine lange Verschiebung des Brexit. Großbritannien müsste dann Ende Mai doch noch einmal auch an den EU-Wahlen teilnehmen.
Mehrere prominente Brexit-Hardliner signalisieren zuvor, dass sie nun doch für den zwischen Premierministerin Theresa May und der EU vereinbarten Vertrag stimmen wollten, doch es reichte nicht. Dazu gehören der ehemalige Außenminister Boris Johnson, Ex-Brexit-Minister Dominic Raab und der einflussreiche Parlamentarier Jacob Rees-Mogg.
Die heutige, die dritte Abstimmung im britischen Unterhaus, aus der Sicht des britischen Streetart-Künstlers Banksy:
Für den Fall einer Zustimmung kündigte Premierministerin Theresa May ihren vorzeitigen Amtsverzicht an. Ihr Schicksal ist nun offen - in den Reaktionen der Abgeordneten wurde deutlich, dass viele diese Angebot gerne annehmen würden, trotz der Ablehnung.
Nur eine halbe Kehrtwende
Zwar hatte der frühere Außenminister und Brexit-Hardliner Boris Johnson am Donnerstag eine Kehrtwende vollzogen und nach Mays Rücktrittsankündigung erklärt, nun werde er für den Vertrag stimmen. Dennoch sprechen sich nach wie vor mehr als ein dutzende konservative Abgeordnete gegen den Vertrag aus. Auch die nordirische DUP, auf deren Unterstützung May angewiesen ist, blieb bei ihrem Nein.
So war May auf die Stimmen der Opposition angewiesen - doch auch diese stimmte erneut gegen den Austrittsvertrag. Das Weglassen der politischen Erklärung aus dem Antrag durch die May-Regierung sei "nicht Teil eines Plans, sondern eine Verzweiflungstat", sagte der Brexit-Sprecher der Labour-Partei, Keir Starmer. Ohne die Erklärung wüssten die Abgeordneten nicht, "wofür sie wirklich votieren".
Parlamentspräsident John Bercow hatte am Donnerstagabend den Antrag der Regierung für eine erneute Abstimmung über den Vertrag zugelassen. Bercow begründete seine Entscheidung damit, dass der Antrag nach der Auslassung der politischen Erklärung "neu" sei und sich "substanziell" von den beiden bisherigen Texten unterscheide.