Das Ringen der Briten um ihren EU-Ausstieg steuert auf ein dramatisches Finale zu; obwohl die Zeit immer knapper wird, scheinen Politik und Bevölkerung gespalten, die großen Parteien reiben sich zunehmend auf. Lieber Herr Professor Collier: Können Sie uns erklären, was da los ist mit den Briten?
PAUL COLLIER: Die Brexit-Entscheidung war eine Meuterei – ein Aufstand jener, die wütend und unzufrieden mit der aktuellen Situation sind. Im Grunde eine Verzweiflungstat all jener, deren Lebensrealität 40 Jahre lang vernachlässigt wurde. Wobei die Missachtung, die sie erfuhren, mit Brüssel und Europa wenig zu tun hat.
Um was geht es dann?
COLLIER: Das Problem besteht in einer zu großen Kluft in zwei zentralen Bereichen: einerseits einer räumlichen Kluft – zwischen den ländlichen Regionen mit ihren vernachlässigten Provinzstädten gegenüber den kosmopolitischen großen Boomstädten. Der andere Graben verläuft zwischen den weniger gut Ausgebildeten, die über handwerkliche Fähigkeiten verfügen, die heutzutage aber als weniger wertvoll betrachtet werden, und den Hochgebildeten, die auf Basis ihrer Fachbildung besondere Fähigkeiten entwickeln. Beide Probleme greifen ineinander: In den großen Metropolen leben überproportional viele sehr gut ausgebildete Menschen, die gut zurechtkommen und äußerst erfolgreich sind. Zugleich fühlen sich viele Leute in den Provinzstädten und Regionen abgehängt und auf dem absteigenden Ast. Und die in den Großstädten, denen es so lange Zeit viel besser ging, waren nicht bereit, das anzuerkennen oder zumindest zu sagen: Wir sitzen alle gemeinsam im selben Boot und werden alles, was in unserer Macht steht, für euch unternehmen. Im Gegenteil: In den Metropolen herrscht die Haltung vor: „Wir haben mit euch am Land überhaupt nichts zu tun.“ Das Ungleichgewicht und diese Haltungsunterschiede sehe ich als eine Fehlentwicklung der heutigen Ausprägung des Kapitalismus.
Jetzt steht der Kapitalismus zur Reparatur an? Was ist denn so schiefgelaufen?
COLLIER: Kapitalismus ist ein großartiges System und das einzige, das unter Beweis gestellt hat, wachsenden Lebensstandard und Wohlstand für die Massen produzieren zu können. Allerdings funktioniert es nicht auf Autopilot – man kann es nicht über längere Zeiträume gänzlich sich selbst überlassen. Denn dann wird es periodisch zwar immer noch gute Ergebnisse für einige wenige liefern, aber nicht mehr für breitere Gruppen. Es kommt Einzelnen zugute auf Kosten anderer. So ist ein neues Narrativ entstanden, das nicht auf wechselseitigen Verpflichtungen gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft beruht, sondern auf „Selbstverwirklichung durch persönlichen Erfolg“. In den mehr als 250 Jahren, in denen der Kapitalismus als System existiert, ist er drei Mal in größerem Ausmaß aus der Spur geraten. In den 1840ern waren es katastrophale Zustände im Bereich der öffentlichen Gesundheit in den damals neu entstandenen Industriestädten. In den 1930ern entstand Massenarbeitslosigkeit – ein völlig anderes Problem als zuvor. Und jetzt haben wir es mit der geschilderten doppelten Kluft zu tun. Wir müssen politische Lösungen finden, die Zornigen wollen Antworten. Überlässt man das Wirtschaftssystem sich selbst, wird das nicht gelingen.
Sie haben mit einem Vorschlag aufhorchen lassen, mit dem Sie sich nicht nur Freunde machen: Sie wollen die Hochgebildeten und Städter höher besteuern.
COLLIER: Wir müssen den Mythos der gebildeten Eliten niederreißen, wonach ihnen zur Gänze zustehe, was sie erarbeiten und verdienen. Das ist nämlich nicht der Fall. Man muss klar sehen, dass die Hochgebildeten in den großen Agglomerationen – und da zähle ich auch mich selbst als Universitätsprofessor dazu – ihr Einkommen jahrelangen großen öffentlichen Anstrengungen und Steuergeldern verdanken, die diese Metropolen überhaupt erst zu Plätzen mit so großartigen Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten gemacht haben. Die Früchte dieser Anstrengungen müssten eigentlich der gesamten Nation zugutekommen. Stattdessen profitieren nur zwei Gruppen: die Gebildeten und jene Leute, die Boden und Immobilien in den Metropolen besitzen. Dieser enorme Besitz geht zumindest in Großbritannien oft vollkommen steuerfrei aus. Die neu generierten Steuereinnahmen sollten dann aber nicht für Sozialausgaben genutzt werden, sondern um produktive Beschäftigungsmöglichkeiten in die ländlichen Gegenden und Regionalstädte zu bringen. Nur so können die Regionen ihren jungen Leuten Hoffnung auf ein gutes Leben machen und sie von der Abwanderung in die Metropolen abhalten. Da geht es im Grunde um dasselbe Thema wie in fragilen Staaten Afrikas.
Auch die Migrationskrise trug zur Brexit-Stimmung bei. Sie haben Angela Merkels Willkommenskultur scharf kritisiert. Jetzt sind Sie ihr Berater.
Unsere wahre Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen besteht darin, Arbeitsplätze in jenen Ländern zu schaffen, in denen sie leben oder Zuflucht gesucht haben – anstatt einige Privilegierte nach Europa zu bringen. Umso mehr, wenn man keinerlei Mittel zur Verfügung stellt, wie die Menschen überhaupt auf sichere Weise herkommen können. Junge, tatkräftige Afrikaner nach Europa zu bringen, ist ein schwerer Schlag auch für Afrika. Merkel hat ihren Kurs geändert und mit ihrer Job-Initiative gezeigt, dass sie fähig zu Kurskorrekturen ist, wenngleich es hier noch mehr Konsistenz bedürfte.
Sie schreiben selbst, die Mehrheit der Migranten komme aus Ländern, in denen staatliche Institutionen schwach sind. Haben wir überhaupt taugliche Mittel, die Entwicklung von Staatlichkeit zu unterstützen?
COLLIER: Ja und nein. Es liegt nicht in unserer Macht, Afrika zu „retten“. Wir können dort helfen, wo es zumindest eine gewisse Form von Führung gibt, die aktiv etwas Positives für das Land erreichen möchte – nicht nur Vorteile für sich selbst. Was wir nicht können, ist ein Land vor seiner schlechten Führung zu bewahren. Der Anspruch, alle retten zu können, ist unrealistisch und beruht letztendlich auf imperialen Fantasien.
In Europa verweben sich heute Ängste vor sozialem Abstieg mit der Sorge vor dem Verlust nationaler Identität. Wie begegnet man diesen?
Die Brüche, die auch in der Brexit-Debatte sichtbar werden, zeigen: Wir müssen, auch in einem kulturell vielfältigen Land, wieder gemeinsame Identitäten entwickeln und eine gemeinsame Zielrichtung. Idealerweise sollte diese darin bestehen, an einer besseren Zukunft zu arbeiten – pragmatisch und jenseits von Ideologien, links oder rechts. Für eine funktionierende Gesellschaft braucht es ein „Wir“ – und dieses ist abhandengekommen. Ich bin nicht nur Individuum, sondern auch Mensch in der Gemeinde, in der ich wohne, in einem Umfeld mit anderen. Da geht es darum, wieder Verantwortung zu übernehmen für diesen Ort und die Menschen dort. Das würde ich unter einem konstruktiven Patriotismus verstehen. Und diese Verantwortung beruht dann auf Wechselseitigkeit, für alle und ohne ein Gefühl von Anspruchsberechtigung gegenüber dem Staat.
Wie wird das Brexit-Drama letztlich ausgehen?
COLLIER: Meutereien, auch wenn noch so berechtigt, fehlt es meist an Vorausblick. Auf der Bounty sahen die Meuterer damals nicht voraus, dass das Schiff in Pitcairn, einer kleinen Insel landen würde – im Nirgendwo. Vielleicht wird es Großbritannien mit dem Brexit ganz ähnlich ergehen. Doch das ist nicht, wofür die Leute auf die Barrikaden gestiegen sind. Sie wollten, dass ihre Probleme wahrgenommen und gelöst werden. Die Europäische Union mag nicht ideal sein, aber wir könnten sie richtig gut machen. Ich hoffe sehr, dass, wenn wir Briten wirklich aussteigen, wir in beiderseitigem Bedauern gehen werden – nicht in beiderseitigem Zorn. Seit dem Vertrag von Versailles 1919 wissen wir: Wenn Entscheidungen im Groll getroffen werden, können diese jahrzehntelang wirken und desaströse Folgen haben. Der Abschied muss von Trauer begleitet sein, Trauer, die sich zu Bedauern wandelt, und Bedauern, das zu einer Wiederherstellung des Verlorenen und einem Neustart führt. Das ist meine Hoffnung.