Warum war diese Abstimmung wichtig?
Zwei Wochen vor dem EU-Austrittsdatum am 29. März herrscht Chaos in London. Am Dienstag verwarf das Unterhaus zum zweiten Mal Theresa Mays Austrittsvertrag. Gestern Abend ging es in Westminster dann um die Frage, ob das Vereinigte Königreich ohne Vertrag ausscheiden solle oder nicht. Weil die Gegner eines „No Deal“-Brexits deutlich machen wollten, dass sie eine „Brexit-Katastrophe“ nicht in Kauf nehmen würden. Auch mehrere Kabinettsmitglieder hatten ein solches Votum verlangt.
Um Rücktritte zu verhindern, hatte May allen Regierungsmitgliedern „freies Stimmrecht“ eingeräumt. Allerdings verhindert eine Willensbekundung allein keinen „No Deal“-Abgang. Sollte in den nächsten zwei Wochen nicht noch irgendeine Vereinbarung mit der EU geschlossen oder ein zeitlicher Aufschub erwirkt werden, würde Großbritannien in der Nacht zum 30. März automatisch ohne Deal ausscheiden. So wollen es die Regeln der EU. So verlangt es die gesetzliche Verankerung des Austrittsdatums in britischem Recht. Ein „No Deal“-Brexit wurde – wie erwartet –abgelehnt, aber extrem knapp mit vier Stimmen Vorsprung.
Lässt sich das nicht mehr ändern?
Doch. Darum geht es bei der Abstimmung am Donnerstag, der dritten dieser Woche. Das Unterhaus soll gefragt werden, ob es eine Verschiebung des Austrittsdatums will. Sollte es dem zustimmen, wäre die Regierung beauftragt, die EU um einen solchen Aufschub zu bitten und eine sofortige Gesetzesänderung zu veranlassen, mit der das von Westminster fixierte Datum wieder gelöscht werden kann. Zentrale Fragen beim Entscheid heute Abend werden sein, wie lange der erwünschte Aufschub dauern und welchem Zweck er dienen soll. Angaben dazu hat ja auch die EU verlangt. An diesem Punkt beginnt es, spannend zu werden. Möglicherweise werden durch Zusatzanträge erste Weichen für eine Alternative zu Mays bisherigem Kurs gestellt.
Welche Möglichkeiten gäbe es dann?
Theoretisch könnte das Parlament noch der Idee des Oppositionsführers Jeremy Corbyn zustimmen, Großbritannien fest in einer Zollunion mit der EU zu belassen. Oder es könnten sich moderate Abgeordnete aller Parteien einigen auf eine „Norwegen-Plus“-Lösung mit Verbleib in Zollunion und Binnenmarkt. Gegen beide Vorschläge gibt es aber starke Bedenken. Letztlich wäre auch möglich, dass sich noch eine Mehrheit für ein neues Referendum findet. Dessen Befürworter hoffen, dass ihre Chancen in den nächsten Tagen steigen – falls sich das Unterhaus auf nichts anderes einigen kann.
Ist Mays Deal ein für alle Mal tot?
Nicht unbedingt. Obwohl er zweimal spektakulär abgeschmettert wurde. In Downing Street No. 10, hört man, gilt: Aller guten Dinge sind drei. Angeblich glaubt May noch immer, dass sich mehrere Dutzend Tories „kurz vor Torschluss“ hinter sie stellen könnten. Auch bei Labour sollen noch mindestens 30 Abgeordnete unschlüssig sein. Die sogenannte „Ratifizierungsidee“ zweier Labour-Hinterbänkler könnte noch immer ins Spiel kommen. Diese Idee sieht vor, dass das Unterhaus Mays Deal letztlich passieren ließe – unter der Bedingung, dass er anschließend per Referendum den Briten vorgelegt werden müsste, mit der Option auf weiteren Verbleib in der EU.
Welche anderen Szenarien gäbe es?
An Rücktritt scheint May nicht zu denken. Aber von Neuwahlen ist viel die Rede – zumal die Konservativen in Umfragen zehn Prozent vor Labour liegen. Auch in diesem Fall würde natürlich zeitlicher Aufschub gebraucht. Sollte es dazu kommen, wäre freilich nicht klar, wie sich Mays total zerstrittene Partei in puncto Brexit auf ein gemeinsames Programm sollte einigen können. Nicht ausgeschlossen ist auch, dass sich die Tories ihrer Partei- und Regierungschefin noch entledigen. Einen Absetzungsmechanismus in der Fraktion gibt es zwar vor Dezember nicht mehr. Aber wenn das Kabinett sich auflöste oder wenn ein Teil der Partei oder Nordirlands DUP ihr die Gefolgschaft versagte, wäre May praktisch am Ende. Rechnen muss man mit allem. Unmöglich ist nichts.
Was ist nötig für eine Verlängerung?
Nach Artikel 50 des EU-Vertrages müsste Großbritannien einen Antrag auf Verlängerung stellen. Die Staats- und Regierungschefs der anderen 27 EU-Staaten müssten „einstimmig“ entscheiden, die Frist zu verlängern. Eine Höchstdauer gibt es nach Artikel 50 nicht, eine mehrfache Verlängerung wäre möglich. Der Vertrag nennt auch keine Bedingungen. Die EU-Staaten erwägen allerdings, Bedingungen für ihre Zustimmung zu setzen. Die entscheidende Frage sei, wofür die gewonnene Zeit genutzt werden solle. Vorstellbar seien nur drei Gründe, sagte ein Diplomat in Brüssel: die Ratifizierung des bisher abgelehnten Austrittsvertrags in Großbritannien; zusätzliche Zeit für die Vorbereitung auf einen harten Bruch; oder Zeit für ein Referendum oder Neuwahlen.
Warum ist die Verlängerung schwierig?
Wegen der Europawahlen, die vom 23. bis zum 26. Mai stattfinden. Großbritannien wäre verpflichtet, seinerseits Wahlen abzuhalten. Damit fiele die geplante Verkleinerung des EU-Parlaments von 751 auf 705 Sitze vorerst aus. Für viele EU-Vertreter ist es problematisch, dass Abgeordnete eines Landes, das austreten will, den neuen Präsidenten der EU-Kommission mitwählen. Als maximal mögliche Verlängerung ohne EU-Wahl in Großbritannien gilt die Zeit bis Ende Juni, weil am 2. Juli das neue Europaparlament erstmals tagt.
Würden drei Monate reichen?
Nein. Experten schätzen den nötigen Vorlauf für ein erneutes Referendum zum Brexit auf mindestens 22 Wochen. Neuwahlen könnten schneller stattfinden, es ist aber fraglich, ob sich unter einer neuen Regierung das Brexit-Problem tatsächlich so schnell lösen lässt.
Peter Nonnenmacher aus London