Das britische Unterhaus hat den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Brexit-Vertrag trotz Nachbesserungen erneut abgelehnt.391 Abgeordnete stimmten am Dienstagabend dagegen, 242 votierten dafür. May hatte der EU am Montag neue Zusicherungen in der Frage der Nordirland-Grenze abgerungen. Die EU und Bundeskanzler Sebastain Kurz (ÖVP) bedauerten das Votum.
Das Votum erhöhe das Risiko eines Austritts ohne Abkommen "deutlich", erklärte ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk am Dienstagabend. EU-Verhandlungsführer Michel Barnier schrieb auf Twitter, das Brexit-Problem könne nur in Großbritannien gelöst werden. Kurz teilte mit: "Dieses erneute negative Parlamentsvotum bringt uns schon gefährlich nahe an das Brexit-Datum, ohne ein ordentlich vorbereitetes Austrittsszenario fertig zu haben." Der weitere Bewegungsspielraum in Brüssel und die Möglichkeit an Zugeständnissen seien nun "sehr eingeschränkt", hieß es in einer Stellungnahme von Kurz.
Kneissl: "Es deutet sehr vieles auf harten Brexit hin"
Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) hält nach dem Scheitern des ausgebesserten Brexit-Deals im britischen Parlament einen EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen für wahrscheinlich. "Es deutet sehr, sehr viel darauf hin, dass es ein harter Brexit wird", sagte Kneissl am Dienstagabend gegenüber der APA. Für sie kommt diese Entwicklung "nicht sehr überraschend".
"Ich hab in den letzten drei Monaten schon immer gesagt, für mich deutet vieles auf einen harten Brexit hin, aufgrund der verfahrenen Positionen. Und ich hab mich gefragt, was kann man jetzt noch erreichen, was man in den eineinhalb Jahren Verhandlungen vorher nicht schon erreicht hat." Auch die "emotionale Dimension" dürfe nicht unterschätzt werden. "Da sind Frustrationen einfach da."
Corbyn: Mays Vertrag ist tot
Nach der erneuten Ablehnung des Brexit-Vertrags durch das Unterhaus in London hat der britische Oppositionsführer Jeremy Corbin das Abkommen für "tot" erklärt. "Ihr Vertrag, ihr Vorschlag, jener der Premierministerin, ist eindeutig tot", sagte Corbyn am Dienstagabend. Der Labour-Chef hatte zuvor zu einer Zurückweisung des von Premierministerin Theresa May mit der EU erzielten Deals aufgerufen.
"Niemand sollte sich ein No-Deal-Szenario wünschen. Ein Hard Brexit schadet der Europäischen Union, aber noch viel mehr Großbritannien." Österreich habe jedenfalls "alle Vorkehrungen getroffen, um auf einen Hard Brexit vorbereitet zu sein", ließ der Kanzler wissen. "Zugleich sollten wir offen dafür sein, den Brexit für ein paar Wochen zu verschieben, um einen Hard Brexit zu vermeiden. Eine Teilnahme von Großbritannien an den EU-Parlamentswahlen wäre allerdings absurd."
"No-Deal"-Pläne
Die britische Regierung will an diesem Mittwoch weitere Notfallpläne für einen Brexit ohne Abkommen veröffentlichen. Das sagte Premierministerin May nach der Niederlage für ihren Austrittsdeal am Dienstag im Unterhaus in London.
Ein No-Deal-Brexit hätte schwerwiegende Auswirkungen für die Wirtschaft und Millionen Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Unter anderem wären auch Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland notwendig. Das wollen aber alle Seiten unbedingt verhindern, weil sonst ein Wiederaufflammen des Konflikts in der ehemaligen Bürgerkriegsregion befürchtet wird.
Zweite verlorene Abstimmung
May hatte bereits die erste Abstimmung über den Vertrag im Jänner krachend verloren. Oppositionsführer Jeremy Corbyn stellte sich vor der Abstimmung erneut gegen Brexit-Deal. Auch Mays juristischer Chef-Berater Geoffrey Cox erklärte, er sehe weiter rechtliche Risiken. Im Falle einer Ablehnung sollte am Mittwoch nach früheren Planungen darüber abgestimmt werden, ob Großbritannien ohne Abkommen aus der EU austritt. Findet sich auch dafür keine Mehrheit, soll am Donnerstag über eine Verschiebung des Austrittstermins entschieden werden. Großbritannien will nach bisherigem Stand die EU am 29. März verlassen. Bei einem Brexit ohne Vertrag werden erhebliche wirtschaftliche Folgen für beide Seiten befürchtet.
Heisere May
In der mehrstündigen Debatte hatte May, die vor Heiserkeit kaum sprechen konnte, das Parlament in London eindringlich dazu aufgerufen, für das nachgebesserte Brexit-Abkommen zu stimmen. "Wenn dieser Deal nicht angenommen wird, kann es sein, dass der Brexit verloren geht", warnte die Regierungschefin die Abgeordneten. "Ich bin sicher, dass wir die bestmöglichen Änderungen erreicht haben."
Viele Parlamentarier ihrer Konservativen Partei und der nordirisch-protestantischen DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, kritisierten das nachgebesserte Abkommen scharf. Der notwendige Fortschritt sei nicht erreicht worden, monierte die DUP.
Zweite krachende Niederlage
May war mit ihrem Deal bereits Mitte Jänner im britischen Unterhaus krachend gescheitert. Sie hatte daraufhin Nachverhandlungen mit Brüssel geführt. Am Montagabend reiste sie überraschend nach Straßburg und stellte dort mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker neue Vereinbarungen vor. Eine rechtlich verbindliche Zusatzerklärung und zwei weitere Dokumente sollten skeptische Abgeordnete davon überzeugen, dass Großbritannien durch das Austrittsabkommen nicht gegen seinen Willen in einer engen Bindung mit der EU gehalten werden kann.
Doch der britische Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox machte am Dienstagnachmittag Mays Hoffnung auf eine Mehrheit für den Deal mit einem Schlag zunichte. Großbritannien habe weiter keine rechtlichen Mittel, um die als Backstop bezeichnete Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu kündigen, urteilte Cox in einem Gutachten.
Backstop
Die Backstop-Regelung sieht vor, dass Großbritannien so lange in einer Zollunion mit der EU bleiben soll, bis das Problem mit der irischen Grenze anderweitig gelöst ist. Kontrollen zwischen den beiden Teilen Irlands wollen alle Seiten vermeiden, weil sonst mit einem Wiederaufflammen des Konflikts in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gerechnet wird.
Innerhalb einer Zollunion sind keine Warenkontrollen an den Grenzen notwendig. Das bedeutet aber auch, dass Großbritannien in dieser Zeit keine Freihandelsabkommen mit Drittstaaten wie China oder den USA schließen kann - eines der wichtigsten Argumente für den EU-Austritt. Brexit-Hardliner hatten daher eine Befristung oder ein einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop gefordert. Brüssel lehnte das aber kategorisch ab.
Juncker: "Es wird keine dritte Chance geben"
Juncker hatte die Abgeordneten gewarnt, die EU werde keine weiteren Zugeständnisse machen. "Es wird keine dritte Chance geben", sagte Juncker. Werde dieser Vertrag nicht angenommen, werde der Brexit womöglich gar nicht stattfinden. Eine Verlängerung der Austrittsfrist sei nur bis zur Europawahl Ende Mai möglich, andernfalls müsse Großbritannien an der Wahl teilnehmen.
Die Briten hatten bei einem Referendum im Jahr 2016 mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der Staatengemeinschaft votiert. May führt seit einer verpatzten Neuwahl 2017 eine Minderheitsregierung, die die Unterstützung der nordirischen Partei DUP benötigt.
Zerstrittenes Parlament
Das Londoner Parlament ist jedoch in Sachen Brexit heillos zerstritten. Mays Pläne zum EU-Austritt hatten zu zahlreichen Rücktritten von Ministern geführt. Darunter waren auch die Brexit-Minister David Davis und Dominic Raab sowie Außenminister Boris Johnson.
Nicht nur Mays Konservative Partei ist sich im Brexit-Kurs uneins, sondern auch die größte Oppositionspartei Labour. Insgesamt ein knappes Dutzend unzufriedener Abgeordneter aus beiden Parteien gründete kürzlich eine eigene "Unabhängige Gruppe" und ermunterte weitere Parlamentarier, sich ihnen anzuschließen.
Kein Fraktionszwang
May will nach der erneuten Niederlage wie versprochen am Mittwoch über einen Brexit ohne Vertrag (No-Deal-Brexit) abstimmen lassen. Die Abgeordneten des Regierungslagers sollen dabei keinem Fraktionszwang unterliegen. Das sagte May in einer Erklärung am Dienstagabend im Parlament.
"Wenn das Unterhaus dafür stimmt, ohne ein Abkommen am 29. März auszutreten, wird es die Linie der Regierung sein, diese Entscheidung umzusetzen", so May. Sie selbst glaube aber, der beste Weg aus der EU auszutreten, sei auf geordnete Weise.