Wie kann dem um sich greifenden Populismus in Europa Einhalt geboten werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer hochkarätigen, fast zweistündigen Diskussion am Donnerstag Abend in Wien, zu der der berühmte amerikanische Politologe Francis Fukuyama eingeflogen wurde. Die Debatte am Campus der Erste Bank, an der auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen und der bekannte Osteuropa-Experte Ivan Krastev teilnahmen, überraschte, weil auf jegliches Moralisieren verzichtet wurde.
Fukuyama nannte in seinem Einleitungsstatement drei Gründe, warum das westliche, liberale Gesellschaftsmodell, dessen Siegeszug der in Stanford lehrende Starpolitologe in seinem berühmten Buch „Das Ende der Geschichte“ - fälschlicherweise – prophezeit hatte, in den letzten Jahren massiv unter Druck gekommen sei.
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Zum einen führe die Globalisierung nicht automatisch dazu, dass jeder am wachsenden Wohlstand teilhabe, zum anderen gebe es den großen Wunsch, dass die Politik rasche Entscheidungen fällt, was in demokratisch verfassten Ländern zunehmend schwierig sei. Von entscheidender Bedeutung sei, so Fukuyama, der dritte Punkt, den er in den Mittelpunkt seines jüngsten Buches gestellt hat und dem viel zu wenig Bedeutung bisher beigemessen wurde: die kulturelle Dimension, insbesondere die Frage der Identität.
Die Linke - Interesse nur für Randgruppen
Fukuyama brachte den alten von Platon verwendeten Begriff „Thymos“ ins Spiel, wonach sich die Menschen nach Anerkennung, Zustimmung, Respekt, Würde sehnen. Eine Gesellschaft brauche eine identitätsstiftende Klammer, den Populismus nur auf ökonomischen Gründe zu reduzieren, greife zu kurz.
„Viele werfen mir vor, dass ich die Linke für den Populismus verantwortlich mache. Das stimmt nicht. Ich versuche nur, die Dinge zu analysieren“, betonte Fukuyama, um kurz darauf den „kulturellen Snobismus der gut ausgebildeten, urbanen, liberale kosmopoliten Eliten“ anzuprangern. Die Leuten hätte den Eindruck, dass nicht nur die Migranten die nationale Identität gefährden, sondern auch die Eliten.
An anderer Stelle kam Fukuyama auf die Entfremdung im linken Lager zu sprechen, wo sich man sich spezifischen Themen wie ethnischen Gruppierungen, Minderheiten, gleichgeschlechtlichen Paaren zugewandt hat, sich die klassische Arbeiterschaft aber nicht mehr repräsentiert fühlt. „Die Arbeiter haben das Gefühl, dass sich die Linke nicht mehr für ihre Probleme interessiert und sich um andere Gruppen sorgt.“
Van der Bellen: Südtiroler "ein bisschen Österreicher"
Van der Bellen legte in seiner Wortmeldung ein leidenschaftliches Plädoyer für Europa ab. Im Unterschied zu anderen Ländern weise Österreich eine jahrezehntelange Erfahrung mit den Populismus auf. „Haider war ein Meister des Fachs, das muss man neidlos anerkennen.“ Der Bundespräsident meinte allerdings: „Wir sollten uns von dem Kaninchenblick auf die Schlange lösen. Ich weiß nicht, warum wir uns dauernd einreden, warum wir damit nicht fertig werden.“
Van der Bellen überraschte mit der Bemerkung, man sollte sich durchaus was von den Populisten abschauen. „Die Linken und Liberalen müssen aufhören, sich vor jedem Begriff zu fürchten. Natürlich kann man auch über Patriotismus, Heimat reden. Wir müssen versuchen, Europa den Leute nicht nur rational zu erklären, sondern mit Argumenten, die direkt ins Herz gehen. Und das ist, sorry to say, ein bisschen populistisch.“
Und schließlich: „Ich habe im EU-Parlament betont: Ich bin Tiroler, Österreicher und Europäer, ich sehe nicht ein, warum ich wählen muss. Ich bin alles zusammen.“ Das gelte für alle Europäer, so Van der Bellen, um beiläufig einzustreuen. „Ein Südtiroler ist Italiener und Europäer, ein bisschen Österreicher ist er auch.“
Identität ist keine Sünde
Der bekannte bulgarische Politologe und Osteuropaexperte Ivan Krastev pflichtete dem amerikanischen Gast bei: „Ich bin glücklich, dass sich Fukuyama mit dem Phänomen der Identität befasst, denn es gibt Leute, die so tun, als ob die Identität eine Sünde ist.“ Und tische einige Erklärungen auf, warum sich der Osten seiner Meinung nach zunehmend vom westlichen Mainstream abkoppelt.
Die Osteuropäer wollten seit 1989 das westliche Modell der liberalen Demokratie nachahmen. „Wenn man nachahmt, ist man in einer psychologisch schwierigen Situation. Man will jemand anderer sein und hat immer das Gefühl, dass man es noch nicht geschafft hat. Heute sagen viele, wir haben einfach keine Lust mehr, nachzuahmen.“
"Win-win" ist oft ein Schwindel
Tiefe Spuren würde auch die seit Jahren anhaltende Abwanderung vieler Osteuropäer in den Westen hinterlassen. „Es ist schwer, in einem Land glücklich zu sein, von dem viele Landsleute weg wollen. Man lebt an einem Ort, der keinen Wert mehr darstellt.“ Auch Krastev reitete in der Debatte Attacken gegen das Establishment. „Die liberalen Eliten sagen, wir können die Migration oder die Globalisierung nicht stoppen. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Menschen entgegnen: Wenn man nichts dagegen tun kann, warum soll wir euch noch wählen?“
Noch in einem anderen Punkt habe die klassische Politik versagt: „Die Leute glauben der Politik nicht mehr, weil man ihnen immer eingeredet hat, alles sei eine „win-win-Situation.“ Welch' Unsinn: Überall gibt es Gewinner und Verlierer.“
Die Statistik als Totschlagargument
Die polnische Philosophin Karolina Wigura verwies auf die Lage in ihrem Heimatland. Die Angst vor der Vergangenheit, also der Schrecken vor dem Kommunismus und den Nationalsozialismus, sei der „Angst vor der Zukunft“ gewichen. Die EU-Diplomatin Julia De Clerk-Sachsse ging selbstkritisch mit Brüssel ins Gericht. „Wir neigen dazu, den Leute zu sagen: Eure Sorgen sind unbegründet, ich liefere euch den Beweis an Hand einer Statistik.“ Nur so komme man den Ängsten breiter Bevölkerungsschichten nicht bei.