uf den ersten Blick ist es etwas irritierend, wenn Erwachsene ihre Kinder an der Leine führen: Handgelenk an Handgelenk, eng miteinander verbunden. Ganz abwegig erscheint es dann nicht mehr, wenn man seinen Blick hebt und nach vorne schaut: Hier am Tian’anmen-Platz, auch Platz des Himmlischen Friedens genannt, ist alles ein bisschen größer als sonst wo: Knapp 40 Hektar groß, rund eine Million Menschen hätten hier theoretisch Platz, da kann man schon einmal verloren gehen. Stichwort: Leine. Und doch drängt sich dem, der mit dem Blick von außen kommt, neben dem Alltagspragmatismus immer auch eine symbolhafte Ebene auf.
Die Leine, das Band zwischen dem, der auf einen schaut und dem, der maximal darauf vertrauen kann, dass sich Harmonie einstellt. Das kann, das muss man auch als Verbindung zwischen China und seiner Bevölkerung sehen. Denn harmonisch schaut anders aus – das zeigt sich gerade am Tian’anmen-Platz ziemlich eindringlich: Am 4. Juni vor 30 Jahren wurde hier die Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen. Das ist noch immer ein Tabu.
Nicht weit davon entfernt, am Westen des Platzes, erhebt sich ein neoklassizistischer Gigant, der alljährlich im März, heuer vom 5. bis zum 15., der symbolträchtige Ort für Chinas Nationalen Volkskongress ist. Rund 3000 Abgeordnete aus dem ganzen Land strömen in die Große Halle des Volkes, um die ohnehin schon festgelegten Beschlüsse der politischen Führung abzusegnen. Eine gigantische Inszenierung bildlich wie inhaltlich.
Das passt gut in ein Gebäude, das einen mit zwölf jeweils 25 Meter hohen Marmorsäulen empfängt. Man selbst schrumpft hier im Verhältnis auf Ameisengröße. Aber wer zuvor aufgrund der massiven Sicherheitskontrollen in ewig langen Warteschlangen auf den Einlass wartet, hat sich längst damit abgefunden, ein Teil des Schwarms zu sein. Gigantomanie, das ist nichts zum Schwärmen, vielmehr etwas zum ungläubigen Staunen. Das betrifft auch die Bauzeit: Offiziellen Angaben zufolge wurde das Gebäude unter der Leitung des staatlichen Architekten Zhang Bo von Oktober 1958 bis August 1959 gebaut. Also nicht einmal ein Jahr lang. Wer in der 170.000 Quadratmeter großen Anlage das Zentrum sucht, der hängt sich an den stetigen Strom chinesischer Touristen. Zu übersehen ist es nicht: Über 10.000 Plätze fasst der Kongresssaal, wo auch der Volkskongress tagt.
Dicke, rote Teppiche dämpfen die Schritte, zwei übereinander auskragende Tribünen verweisen aufs Zentrum: die Bühne, die im Verhältnis zum Rest des Raums wie ein Guckkasten wirkt. Hier sitzen die Parteigranden während des Volkskongresses, und vielleicht ist es eine gute Abbildung der Wirklichkeit: Die wenigen, die hier sitzen, die regieren. Der Rest, der ist nur Kulisse.
Gigantische Flurfluchten, so groß wie Ballsäle, führen zu Hunderten Versammlungsräumen und Büros. Hier könnte man formidabel Verstecken spielen, käme man am Sicherheitspersonal vorbei. Ein steter Strom von Touristen flaniert in Richtung Banketthalle, Marmor, so weit das Auge reicht. Man lässt sich blenden, übersieht dabei die wahre Macht, die an jeder Ecke montiert ist: Überwachungskameras. Sie bauen gigantische Datenberge auf. Und da ist weit mehr Volk drinnen, als in der Großen Halle des Volkes je Platz finden würde.