Der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama stellt vier Tage lang in Europa sein neues Buch "Identität" vor. Heute ist er in Wien zu einer Diskussion mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen und kritisiert in einem Interview mit der Kleinen Zeitung vor allem eine fehlgeleitete Diskussion über Identität. "Viele Gruppen im linken Spektrum haben in den vergangenen drei Jahrzehnten ihr Verständnis von Ungleichbehandlung verändert", sagt Fukuyama.
Im 20. Jahrhundert sei die Diskussion über eine Angleichung von Fehlern im System noch konzentriert gewesen auf weit gefasste sozialen Klassen. "Mittlerweile richtet sich der Diskurs stärker auf die Hervorhebung spezifischer Formen von Ungleichheit wie Rasse, Ethnie, Aufenthaltsstatus, Geschlecht, sexuelle Präferenz", sagt der Stanford-Professor, der 1992 mit seinem Buch "Das Ende der Geschichte" Weltruhm erlangt hat. "Die Aufmerksamkeit verlagerte sich von der alten Arbeiterklasse auf diese neuen Identitätsgruppen." Der Prozess sei in den Europa und in den USA gleichermaßen zu beobachten gewesen, sagte er im vorab geführten Exklusivinterview. "Die weißen Arbeiter fühlten zunehmend, dass sich die Linke nicht mehr für ihre Situation und ihre Probleme interessiert und zurückgestellt gegenüber den neuen Identitätsgruppen."
Exklusivinterview mit Fukuyama in voller Länge
Der Livestream der Diskussion:
Fukuyama hält eine Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump allein auf Basis seiner Anhänger für unmöglich, da er nur nur von 35 Prozent der Amerikaner "leidenschaftlich unterstützt" werde. Trump müsste als auch Wähler aus der Mitte überzeugen, was er nach Ansicht des Politikwissenschaftlers allerdings nicht tue. Dennoch könnte es reichen für Trump. "Das einzige, was ihm die Wiederwahl sichern würde, wäre ein zu starker Linksruck der Demokraten. Tatsächlich sieht man derzeit diese Tendenz und das könnte zu viele Wähler aus der politischen Mitte verschrecken", sagt Fukuyama.
Ingo Hasewend