Professor Fukuyama, mit Ihrer These vom Ende der Geschichte sind Sie berühmt geworden wie kein zweiter Politikwissenschaftler. Seit 27 Jahren debattieren Befürworter und Kritiker. Wie geht es Ihnen damit, dass darüber noch immer gestritten wird?

FRANCIS FUKUYAMA: Leider beruht ein Großteil der Diskussion auf einem Missverständnis über den Grundgedanken meiner Überlegungen. Viele Leute denken noch immer, ich hätte damit sagen wollen, dass Ereignisse einfach aufhören zu passieren und alles zu einer liberalen Demokratie werden würde. Aber das war nicht mein Grundansatz.

Was war er dann?

FUKUYAMA: Mein Augenmerk richtete sich auf Geschichte im Sinne einer Modernisierung. Meine Frage lautete: Welches politische System nehmen Gesellschaften an, wenn sie immer reicher und komplexer werden? Mein Argument im Essay 1989 und dem Buch 1992 war, dass dies nur die liberale Demokratie sein könne, gekoppelt an die Marktwirtschaft. Heute gibt es eine ernsthafte Alternative zu dem Modell und die sehen wir in China. Die Chinesen sind ökonomisch sehr erfolgreich und beherrschen die moderne Technik. Allerdings ist China eine sehr autoritäre Diktatur. Dieser Teil der Geschichte – das gestehe ich bereitwillig ein – ist weiterhin offen für Diskussionen. Nach meiner Ansicht ist ein demokratisches System langfristig allerdings tragfähiger.

Sie haben in einem Interview eingestanden, dass Sie damals nicht das Scheitern der liberalen Demokratie als System als reale Möglichkeit einkalkuliert haben. Erleben wir gerade den Zerfall dieses zivilisatorischen Höhepunktes?

FUKUYAMA: Um ganz korrekt zu sein: Ich habe nicht von einem politischen Zerfall gesprochen sondern davon, dass man eine modernes demokratisches System kreirt hat und dieses zunehmend nicht mehr so funktioniert, wie man es sich eigentlich vorgestellt hat. Es wurde von reichen Eliten erobert und damit weniger repräsentativ und liberal, als ursprünglich vorgesehen. In meinem Buch habe ich damals nicht über diesen Prozess nachgedacht und was das dann für Auswirkungen haben könnte. Darüber wurde ich mir erst im Laufe des letzten Jahrzehnts bewusst und darüber habe ich dann auch das Buch „Politische Ordnung und politischer Zerfall“ geschrieben. Das Buch erschien 2014 und damit lange bevor Donald Trump gewählt wurde.

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Identität“, illiberale Teile der Gesellschaft könnten sich zunehmend durchsetzen, weil sich diese schlicht nach Würde und Anerkennung sehnt und Populisten den Menschen genau dies versprechen. Warum gelingt das den Alt-Akteuren in der Politik nicht?

FUKUYAMA: Ein Großteil der alten Eliten hat seine Glaubwürdigkeit verloren und viele lang bestehende Parteien sind geschwächt überall in Europa. In den USA ist das etwas weniger der Fall. Aber auch hier gibt es dieses Gefühl vieler junger Menschen, dass diese Parteien sie nicht mehr richtig repräsentieren. Es ist aber ein generelles Kennzeichen von menschlichen Gesellschaften, dass sie konservativ sind, wenn es um die Veränderung von Institutionen geht. Jeder weiß, dass es einen äußeren Schockmoment braucht, um solche Veränderungen anzustoßen.

Sie erwähnen in Ihrem Buch die beiden Wahlüberraschungen von 2016 in Großbritannien mit dem Brexit und in den USA mit der Wahl von Trump ins Weiße Haus. Zeigen sich an beiden Entscheidungen nicht auch Defizite in den Wahlsystemen in demokratischen Ländern?

FUKUYAMA: Das Wahlsystem in beiden Ländern ist sicher ein Thema. Großbritannien hat keine Tradition bei Volksabstimmungen. Das funktioniert nicht richtig in ihrem klassischen parlamentarischen System und macht den Kernfehler deutlich, den Premierminister David Cameron damals begangen hat. Und auch in den USA gibt es das Wahlleutegremium-Prinzip, das bei zwei der letzten sechs Wahlen einen Kandidaten gewinnen hat lassen, der nicht die Mehrheit der aller abgegebenen Stimmen erhalten hat. Das ist aber nicht das fundamentale Problem bei den Wahlen 2016.

Sondern?

FUKUYAMA: Es irritierend, dass so viele Menschen genau so abgestimmt haben, wie sie es taten - egal ob es nun eine dünne Mehrheit im britischen Fall oder eine Minderheit in den USA war. Und noch immer fühlt sich ein Drittel der Wähler leidenschaftlich verbunden mit Donald Trump. Selbst wenn er 2020 nicht noch einmal gewählt wird, haben wir das Problem einer große Polarisierung. Ein Teil der Gesellschaft fühlt sich von den bestehenden Eliten und Institutionen entfremdet. Diesen Zustand sehen wir auch in Großbritannien. Auf dieses Problem müssen wir uns konzentrieren und weniger auf die Fehler im Wahlsystem.

Francis Fukuyama: Identität. Hoffmann und Campe, 240 Seiten, 22,70 Euro.
Francis Fukuyama: Identität. Hoffmann und Campe, 240 Seiten, 22,70 Euro. © Hoffmann und Campe

In den USA gibt es viele Menschen, die den Wahlausgang als direkte Reaktion auf Barack Obama sehen. Aber reicht diese Analyse für das Problem?

FUKUYAMA: Der wichtigste Grund für die Wahl von Trump ist schlicht die Wirtschaft. Die Globalisierung hat wenige Menschen extrem reich werden lassen., während gleichzeitig die gewöhnlichen Einkommen stagnierten – speziell der weißen, männlichen Arbeiter. Darüber haben sich großer Groll gebildet. Es gibt außerdem ein wichtiges kulturelles Element, dass eben mit der Frage von Identität zu tun hat und verbunden ist mit der Migration, der Globalisierung und dem Wettbewerb mit fremden Ländern. Es gibt bei viele Menschen das Gefühl, ihnen sei irgendwie ihre Gesellschaft gestohlen worden. Ausländer kommen herein und die Eliten helfen ihnen dabei. Sie fühlen sich als Kernmitglieder ihrer Gesellschaft benachteiligt ausgerechnet von jenem Ort der Herkunft, auf den sie so Stolz waren. Das brodelte schon lange unter der Oberfläche und es brauchte einen opportunistischen Politiker wie Trump, um dieses Gefühl auszunutzen.

Wir sehen derzeit eine alternative Realität. Was kann getan werden, um das zu ändern?

FUKUYAMA: Die Grundvoraussetzung für eine liberale Demokratie sind funktionierende Institutionen. Die bestmögliche Prüfung für schlechte Führung sind Wahlen. In den Vereinigten Staaten hatten wir im November Halbzeitwahlen, in denen Trump überwältigend abgelehnt wurde. Seine Partei verlor 40 Sitze im Repräsentantenhaus an die Demokraten, die nun seine Gesetzesinitiativen und auch seine dämliche Mauer blockieren können. Wenn du mit Populisten in den Ring steigst, muss du sie in den Wahlen schlagen. Das gelingt am besten, wenn man für seine Überzeugungen einsteht und sie auch verteidigt sowie gleichzeitig zu verstehen, was die populistschen Wähler antreibt. Manchmal schenken die aktuellen Eliten dem Thema zu wenig Aufmerksamkeit.

Trump hat die Zwischenwahlen 2018 als seinen Sieg präsentiert.

FUKUYAMA: Aber niemand glaubt das.

Dennoch glaubt seine Basis daran.

FUKUYAMA: Seine Basis reicht aber nicht aus, um eine Wahl zu gewinnen. Es sind nicht mehr als 35 Prozent der Amerikaner, die zu seiner Basis zählen. Er kann keine künftge Wahl gewinnen, ohne Wähler der Mitte oder unabhängige Wähler von sich zu überzeugen. Und tut nichts dafür, um das zu erreichen. Das einzige, was ihm die Wiederwahl sichern würde, wäre ein zu starker Linksruck der Demokraten. Tatsächlich sieht man derzeit diese Tendenz und das könnte zu viele Wähler aus der politischen Mitte verschrecken.

Was denken Sie über den Patriotismus in den USA?

FUKUYAMA: Die politische Linke in den USA wie auch in Europa hat sich immer unwohl gefühlt mit dem Begriff und Gefühl von Patriotismus, weil es assoziiert wird mit Aggression und mit arroganter Dominanz. Da ist sicher auch etwas dran, trotzdem gibt es auch einen liberalen Patriotismus. Er speist sich aus dem Stolz auf demokratische Institutionen und die Verfassung und einer Offenheit gegenüber Fremden oder Außenstehenden. Deshalb fühle ich mich auch als einen loyalen Amerikaner, obwohl meine Familie aus Japan kam. Es gab damals große Schwierigkeiten und dazu gehörten auch die Aufnahmelager. Aber wir wurden akzeptiert als amerikanische Mitbürger. Ich darf teilhaben und genieße ein ziemlich gutes Leben, obwohl ich nicht Teil der Mehrheitsgruppe bin. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass auch eine liberale Person eine patriotische Zugehörigkeit zu den Institutionen seines Landes empfinden kann und gleichzeitig den gewaltsamen und arroganten Nationalismus ablehnen kann, den die extreme Rechte anbietet.

Leitkultur und Identität sind im Diskurs zwischen der politischen Linken und Rechten zu Kampfbegriffen verkommen. Wie kommt man aus dieser Schleife heraus?

FUKUYAMA: Wir brauchen die Betonung eines ganzheitlichen Begriffs von nationaler Identität. In Europa führt das zu komplizierten Diskussionen. Viele Menschen können nationale Identität und altmodischen Nationalismus nicht trennen. Dabei wird Letzteres von den allermeisten abgelehnt – auch von mir. Es gibt aber eine nationale Identität, die offen und liberal sein kann und die die Diversität einer Gesellschaft umfasst. Diese Identität gibt den Menschen gemeinsame Werte und Überzeugungen, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Im Deutschen gibt es dafür das Wort „Verfassungspatriotismus“. Das ist ein Ausgangspunkt, bräuchte aber mehr emotionalen Inhalt.

Haben linke und liberale Intellektuelle mit einer großen Diversifikation und Anerkennung von Orientierungen und Identitäten nicht selbst die Tür geöffnet für eine Sehnsucht nach alten Zuordnungen, die nun die politische Rechte für sich pachtet?

FUKUYAMA: Viele Gruppen im linken Spektrum haben in den vergangenen drei Jahrzehnten ihr Verständnis von Ungleichbehandlung verändert. Im 20. Jahrhundert war es konzentriert auf weit gefasste sozialen Klassen. Mittlerweile richtet sich der Diskurs stärker auf die Hervorhebung spezifischer Formen von Ungleichheit verlagert wie Rasse, Ethnie, Aufenthaltsstatus, Geschlecht, sexuelle Präferenz. Alles Gruppen, die Diskriminierung hervorrufen. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich von der alten Arbeiterklasse auf diese Gruppen. Der Prozess war in den Europa und in den USA gleichermaßen zu beobachten. Die weißen Arbeiter fühlten zunehmend, dass sich die Linke nicht mehr für ihre Situation und ihre Probleme interessiert und zurückgestellt gegenüber den neuen Identitätsgruppen.

Sie machen ein falsch verstandenes Nationalbewusstsein für den Aufstieg der Populisten und den Niedergang der Demokratie mitverantwortlich. Rasse, Ethnie und Religion sollten durch ein staatsbürgerliches Bekenntnis zu demokratischen Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung ersetzt werden. Ist das in einer Generation denkbar?

FUKUYAMA: Zunächst einmal glaube ich gar nicht, dass wir aufhören sollten, über Rasse, Ethnie oder Geschlecht zu reden. Das sind nun einmal Tatsachen des Lebens. Alle Ungerechtigkeiten und Probleme, die daraus entstehen, gehören behoben. Allerdings müsste das Anliegen für diese spezifischen Probleme und Ungerechtigkeiten ergänzt werden um ein Anliegen für integrative Prägnanz und das Bewusstsein für das, was die Menschen gemeinsam haben. Man kann beides gleichzeitig machen. Was wir den Kindern über ihr gemeinsames Erbe beibringen wollen, müssen feste Institutionen im Bildungssystem gewährleisten. Das wäre die Grundlage dafür. Regierungen sind vielleicht etwas eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, diese Art von Einheit zu fördern. Aber es ist die Domäne der obersten politischen Führung.

Nennen Sie mir ein Beispiel?

FUKUYAMA: Im Buch erwähne ich den Film „Unbezwungen“ über Nelson Mandela. 1996 hat Südafrika die Rugby-WM ausgerichtet. Im Post-Apartheid-Südafrika spielen Schwarze Fußball und Weiße Rugby. Mandela glaubte, dass auch Schwarze das Rugbyteam anfeuern müssten, auch wenn es weitgehend weiß besetzt war. Seine ANC-Partei war dagegen. Es war ein Akt von Führung, als Mandela sagte, Sport sei ein wichtiges Symbol für Nation und die „Springboks“ könnten die gesamte Nation repräsentieren. Er hat die Menschen nicht dazu gezwungen, sondern dem Land ein Empfinden dafür gegeben, dass es Dinge gibt, die das Land einen können, statt es weiter zu spalten.

Warum konnten sich autoritärer Führer überhaupt wieder durchsetzen?

FUKUYAMA: Weil populistische Führungsperson charismatisch sind und Populismus ein Entwicklungspfad für Autoritarismus ist.Er oder sie sagt: Ich repräsentiere euch – das Volk – direkt! Sie mögen keine Institutionen wie Gerichte, unabhängige Medien, unparteiliche Bürokratie oder eine seperate Gesetzgebung. Als diese Institutionen sind in den Augen eines autokratischen Anführers Hindernisse, die Forderungen des Volkes zu erfüllen. Deshalb attackieren sie die Unabhängigkeit der Institutionen.

Die Rückbesinnung auf Identität in der traditionellen Lesart ist ein Hauptmerkmal der Rechtsaußenparteien in ganz Europa. Woher kommt diese Konzentration auf dieses Thema?

FUKUYAMA: Zum Teil wurde es ausgelöst durch die Globalisierung und ökonomische Ungleichheiten. Aber der wichtigste Katalysator war die Migrationskrise im Jahr 2015. Sie hat die vorhergehenden Probleme für die Menschen noch sichtbarer gemacht. Es hat sich über einen langen Zeitraum eine Desillusion über die Globalisierung aufgebaut. Und diese hat die Hinwendung verstärkt.

Ist die Political Correctness ein Hemmschuh für liberale Demokraten?

FUKUYAMA: Es könnte dann zum Problem werden, wenn du aus Angst davor, jemanden oder eine Gruppe mit einen Aussagen in ihrer Würde zu verletzen, Dinge sagst, wovon du nicht überzeugt bist oder die andere Menschen so nicht glauben. Tatsächlich haben einige Leute aus der politischen Linken nicht begriffen, dass sie mit ihrem Verhalten und ihren Aussagen Ressentiments ausgelöst haben und den Eindruck erwägen, dass man nicht über alle Themen offen reden kann wegen einer politischen Korrektheit.

Sind in den aktuellen politischen Konzepten die digitalen Entwicklungen schon ausreichend eingearbeitet?

FUKUYAMA: Nein. Wir stehen erst am Anfang einer Phase von Auseinandersetzungen zwischen dem Einfluss von sozialen Medien im Internet und der Demokratie. Uns ist erst jetzt zur Gänze klar, wie das Internet 2016 die US-Wahl beeinflusst hat. Wir haben aber noch immer keine Lösungen gegen Fake News und Filterblasen im Internet. Hier in Stanford haben wir einige Projekte gestartet, um politische Werkzeuge zu finden für den Umgang mit diesen Themen.

Gerade im Silicon Valley und an Ihrer Universität wird der Taktschlag für künstliche Intelligenz und soziale Medien gegeben. Ist die grenzenlose Begeisterung für diese Technologien nicht längst aus dem Ruder gelaufen aus Sicht der liberalen Demokratien?

FUKUYAMA: Der Hype hört gerade wieder auf, weil man sieht, was künstliche Intelligenz tatsächlich bewirkt. Die meisten Befürchtungen hängen ja zusammen mit dem Verlust von Jobs durch die Automatisierung von Produktionsarbeitsplätzen. Es gibt auf die Entwicklung noch keine adäquaten politischen Antworten. Aber das ist kein neues Phänomen. Jede neue Technologie hat einen Bruch bewirkt. Es dauert dann immer einige Jahre, bis die Gesellschaft ihre Regeln daran anpasst und die Auswirkungen kontrollieren kann. Beim Internet stehen wir ja noch am Anfang, wie man damit umgehen soll.

Resonanzräume ohne Grenzen und frei von Überwachung machen es autoritären Systemen leicht, klassische Systeme auszuhebeln. Ist das Internet ein Segen oder Fluch für ein aufgeklärtes und gut informiertes Bürgertum?

FUKUYAMA: Das ist ein dialektischer Prozess, der jetzt wieder begonnen hat. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahre war das Internet eine Stärke für die Demokratie, weil Menschen dort protestieren und sich organisieren konnten. Sie hatten auch Zugang zu mehr und besseren Informationen. Doch mittlerweile haben viele autoritäre Akteure ebenfalls herausgefunden, wie sie das Internet für ihre Zwecke einsetzen können. Die Chinesen haben ein Sozialkredit-System, mit dem sie das alltägliche Verhalten ihrer Bürger beobachten und bewerten können. Das ist eine neue Entwicklung, die bedrohlich ist. Aber die Technik bleibt nicht stehen. Es ist ein ständiges Hin und Her von Stärke zu Schwäche. Diktaturen nutzen die Technik, um ihr Volk zu kontrollieren. Und die Menschen drängen das dann wieder zurück und finden Wege, der Kontrolle auszuweichen. Im Moment scheinen die Versuche von Regierungen stärker, sich aufzumunitionieren. Aber das ist aus meiner Sicht nicht das Ende der Geschichte.