Bei Ihren Vorträgen sitzen junge Menschen, wenn es keine Sessel mehr gibt, auch auf dem Boden, um Sie zu hören. Warum sprechen Sie so viele junge Menschen an?
ÁGNES HELLER: Ich glaube, weil ich nicht die Professorin spiele, die schon alles weiß, und die denkt, dass junge Menschen nichts verstehen. Ich war viele Jahre lang in Australien und Amerika Professorin und hatte immer mit jungen Menschen zu tun. Für mich sind die jungen Leute meine Zeitgenossen.
Sie sprechen offenbar die Sprache der Jugend?
Ich versuche eine Alltagssprache zu sprechen, wenn ich einen Vortrag halte. Ich will das Problematische in der Philosophie verständlich machen. Philosophie ist ja eine einfache Sache: Es geht um die Fragen, die Kinder stellen. Die Kinder sind die besten Philosophen, denn sie fragen: Warum ist das so? Gute Philosophen bleiben im Wesentlichen immer Kinder.
Sie haben in Ihren Vorträgen immer aktuelle Bezüge und sprechen sich klar gegen Ungarns Premier Orbán aus: Bekommen Sie nie Probleme in Ihrer Heimat?
Schauen Sie, ich bin doch alt. Ich kann keinen Arbeitsplatz mehr verlieren. Man kann mich nirgendwo mehr hinauswerfen. Ich habe in der Ära des Kommunistenführers Kádár in Ungarn gelebt – damals war ich tapfer. Ich hatte Arbeit, man hat mich hinausgeworfen. Man hat mich sogar aus meinem Land hinausgeschmissen, weil ich János Kádár unbequem war. Heute habe ich kein Risiko mehr. Ich bin fast 90: Was kann ich verlieren? Sokrates wurde mit 70 getötet, ich bin schon 20 Jahre älter als er. Die Politiker in Ungarn wollen, dass ich mein Maul halte. Das verstehe ich.
Was verstehen Sie?
Weil ich ihr Regime demaskiere, wollen sie, dass ich still bin. In Ungarn gibt es ja keine freie Tagespresse mehr. Also sind andere Kanäle gefragt. Das Internet etwa. Aber ich bin ein Mensch des Papiers, ich liebe es, Bücher zu schreiben. Das habe ich immer gemacht, auch im Kommunismus, als mir alles verboten wurde. Ich habe das für den Schreibtisch gemacht, verlegt wurde das selbstverständlich nicht. Das ist aber auch nicht so wichtig. Wichtig sind die Gedanken. Was kann man mir heute anhaben? Man könnte mich einsperren, aber das Risiko wäre für Orbáns Regime größer als für mich.
Ist Orbán ein Tyrann?
Ja, ist er. Es gibt zwar unterschiedliche Tyrannen, und er ist kein totalitärer Diktator. Er ist aber doch ein Mensch, für den gilt: Was ich nicht will, wird nicht passieren. Wie ein herrischer Vater, der nur duldet, was er mag. Heutige Tyrannen können Premiers oder Präsidenten sein, die von einer Mehrheit gewählt werden und ihre Macht dazu benützen, dass ihr Wille geschehe. Kein anderer Mensch darf einen eigenen Willen haben. Einen eigenen Willen zu haben, so sagt Orbán, ist nicht ungarisch. Es ist wie beim französischen Sonnenkönig Louis XIV.: L’etat c’est moi. I am the state. Orbán ist Ungarn. Ein absoluter Herrscher.
Orbán kam in jungen Jahren über ein Stipendium von George Soros zu einem Studienjahr in Oxford: Wieso hasst er ihn heute?
Orbán hasst Soros nicht. Er kalkuliert nur eiskalt. Er sagt sich, wenn die Ungarn Soros hassen, stärkt das seine eigene Macht. Soros’ Funktion ist es, ein Gesicht für das Objekt des Hasses zu sein. Orbán hat Soros erfunden, wie Erdoan Gülen erfunden hat. Es geht um das metaphysische Bild des Bösen.
Wie geht es den Ungarn damit?
Ungarn hatte immer eine unglückliche Geschichte, und immer gab es einen starken Mann. Erst war es Franz Joseph, unser gemeinsamer Kaiser, der anfangs ein Tyrann war und später der Vater der Nation wurde. Die Ungarn liebten letztlich ihren Franz Joseph. Dann kam der Diktator Miklós Horthy und am Ende liebte man auch den Unterdrücker Kádár. Die Ungarn sind stark, wenn es darum geht, einen Menschen zu idealisieren: So ein Mann verteidigt uns Ungarn gegen das Böse. Selbst von Kádár hieß es: Er verteidigte uns gegen die Amerikaner. Jetzt heißt es: Orbán verteidigt uns gegen Brüssel und schützt uns vor Migration.
... und er erlöse uns von dem Bösen?
Ja, da steckt durchaus eine religiöse Konzeption dahinter. Und es gibt auch eine Hexe. Das ist immer eine Frau. Die Männer hingegen sind die Zauberer. Und dann gibt es das scheinbar Böse wie Soros: Er ist reich, aber die Menschen lieben reiche Menschen nicht. Er ist Jude. Viele Ungarn sind Antisemiten. Und er ist ungarischer Abstammung: umso schlimmer!
Warum umso schlimmer?
Weil er Ungarn verlassen hat, ist er ein Verräter. Es gibt ein sehr bekanntes ungarisches Gedicht, das jedes Kind singt: „Ob du wohl lebst hier oder schlimm, du sollst deine Heimat nicht verlassen. Du musst leben und sterben hier.“ Soros ist in jeder Hinsicht verdächtig. Wie auch Gülen: ein Türke, der nach Amerika gegangen ist.
Warum ist der Antisemitismus so verbreitet in Ungarn?
Der ist in ganz Europa stark. Die gesamte Labour Party in Großbritannien ist antisemitisch. Früher waren eher Konservative antisemitisch, heute ist es Labour. Auch in Deutschland ist der Antisemitismus wieder stärker, das hat Angela Merkel zuletzt ja auch selbst gesagt. Auch die Flüchtlinge sind verhasst. In Ungarn gibt es zwar so gut wie keine, aber wir müssen sie hassen, denn Orbán sagt: „Das sind Terroristen. Sie wollen unser Brot. Sie werden unsere Frauen und Töchter vergewaltigen. Sie werden unsere Kultur zugrunde richten. Dann wird es auch kein Gulasch mehr geben und wir werden Insekten essen, weil sie auch Insekten essen.“ Das ist alles Blödsinn, aber er wirkt auf viele Menschen. So funktioniert Propaganda.
Sie beschreiben in Ihren Büchern die Veränderung von der Klassengesellschaft zur Massengesellschaft: Sucht der moderne Mensch nach seiner Identität?
Die Klassenidentität hat er verloren. Wir leben in einer klassenlosen Gesellschaft, fast so, wie es Karl Marx erträumt hat. Und eine klassenlose Gesellschaft nennen wir Massengesellschaft. Die Massen entscheiden, wer regiert, und sie werden immer jene wählen, die mit ihren Ideologien die Einbildungskraft der Massenmenschen ansprechen. Da kommt der ethnische Nationalismus ins Spiel und auch die Identitätspolitik.
Schwindet der Humanismus? Stehen deshalb die Menschenrechte wieder zu Disposition?
Nach der Französischen Revolution kamen zwei Rechte in die Verfassung: die Menschenrechte und die Staatsbürgerrechte. Beide sind wichtig. Beide zusammenzubringen, das ist die große Herausforderung – die man mit Krieg oder mit einem Kompromiss lösen kann. Einerseits haben Menschen das Recht, unter besseren Bedingungen leben zu wollen und vor der Armut zu fliehen, wie jetzt etwa die Mexikaner, die nach Amerika wollen. Aber ein Asylgrund ist das nicht. Es ist eine Entscheidung. Es ist eine Entscheidung der US-Bürger.
Läuft Europa wieder Gefahr, im Kern national zu werden?
Ja, denn heutzutage lebt die Politik vom ethnischen Nationalismus, sehr nah am Rassismus. Das erinnert mich erschreckenderweise an die Anfänge des 20. Jahrhunderts und an den großen Sündenfall, den Ersten Weltkrieg. Damals wurde der ethnische Nationalismus groß. Alle weiteren Katastrophen waren nur eine Folge davon. Man muss fragen: Wollt ihr so etwas wieder? Denn wenn wir dem ethnischen Nationalismus folgen, ist es das Ende von Europa. Eine kulturelle Macht ist Europa ohnehin nicht mehr. Es gibt bessere Schriftsteller in Lateinamerika und Afrika. Die besten Pianisten kommen heute vielleicht aus China. Die Hochkultur ist globalisiert. Aber: Europa hat den Liberalismus und die Demokratie gebracht. Das sind europäische Erfindungen. Und die müssen wir hochhalten.
Was noch?
Wir brauchen die jetzige Weltordnung nicht zu ersetzen, aber innerhalb dieser Weltordnung kann man Fortschritte machen. Europa soll kein Museum sein, sondern soll sein Gewicht in der Welt bewahren. Wir können es wählen.
Sie werden heuer 90. Wie schaffen Sie es, so fit zu sein?
Das ist meine Natur. Außerdem weiß ich, dass man niemals aufhören soll, etwas zu tun, denn hört man einmal damit auf, hört man für immer damit auf. Meine Freunde sagen: Du sollst nicht so viel reisen. China? Viel zu weit in deinem Alter! Aber ich weiß: Wenn ich kürzlich nicht nach China gekommen wäre, würde ich heuer nicht nach Australien reisen. Ich werde damit nicht aufhören. Es ist einfach eine Entscheidung.
Manuela Swoboda