Am 26. Dezember testete Russland erfolgreich eine neue strategische Waffe, den atomaren Überschallsprengkopf „Avangard“. Nach Informationen des Kremls kann das neue Waffensystem, montiert auf einer Interkontinentalrakete, jedes Raketenabwehrsystem durchbrechen und gilt daher, laut Präsident Wladimir Putin, als „unbesiegbar“. Zusätzlich ließ die russische Führung vorigen Monat mit der Nachricht aufhorchen, dass Avangard bereits in Serie produziert werde und die strategischen Raketentruppen die Waffe 2019 erhalten werden.
Einige Kommentatoren sehen durch diese neuartige atomare Erstschlagwaffe das globale strategische Gleichgewicht bereits zugunsten Russlands verschoben und das derzeitige System der wechselseitigen Abschreckung - die Fähigkeit beider Seiten, einander vollständig mit Atomwaffen zu vernichten - bedroht. Denn im Gegensatz zu ballistischen Atomraketen, die eine einigermaßen vorhersehbare Flugbahn haben, kann Avangard angeblich Flugmanöver mit bis zu 20-facher Schallgeschwindigkeit in den unteren Schichten der Atmosphäre durchführen. Dadurch kann der Sprengkopf leichter Abwehrsysteme überwinden und US-amerikanische bodengestützte Atomraketen - wegen der verkürzten Vorwarnzeit - schon, bevor sie starten können, vernichten. Das schafft einen Anreiz zum russischen Erstschlag gegen die USA.
Die wirkliche Gefahr droht nicht von neuen Waffen
In Washington werden daher Stimmen laut, dass die USA, die bis dato nur nichtatomare Überschallwaffen getestet haben, ebenfalls ihre atomaren Interkontinentalraketen mit Überschallsprengköpfen nachrüsten. Die Angst eines neuerlichen nuklearen Wettrüstens der Atommächte breitet sich in der Welt aus. Der Avangard-Überschallsprengkopf ist jedoch nicht das eigentliche Problem, sondern nur ein Symptom. Die wirkliche Gefahr droht nicht durch neue Waffensysteme, die gab es selbst in Zeiten des Kalten Krieges immer wieder. Vielmehr droht sie durch den sich langsam anbahnenden Kollaps der internationale Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregime in einem neuen Rüstungswettlauf.
Ein Grund für die Entwicklung russischer Überschallsprengköpfe ist der Ausstieg der Amerikaner aus dem 1972 beschlossenen Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen im Juni 2002. Dieser ABM-Vertrag verbot den Aufbau einer landesweit wirksamen Raketenabwehr in den USA und Russland. Die Logik dahinter war simpel: Sollte eine Seite im Kalten Krieg durch den Aufbau einer wirksamen Raketenabwehr annehmen, sie sei unverwundbar, würde es sie bestärken, einen Erstschlag durchzuführen. Denn nur durch die „wechselseitige gesicherte Vernichtung“, so Nuklearstrategen, kann ein Atomkrieg verhindert werden.
Nach dem Ausstieg 2002 begannen die USA aber mit dem Aufbau eines Raketenschilds. Die Russen mussten fürchten, dass ihre ballistischen Interkontinentalraketen im Kriegsfall im Weltall von Abwehrraketen abgeschossen werden würden.
Der Ausweg für Moskau schien nur die Entwicklung neuer Waffen, die alle zukünftigen US-Abwehrsysteme überwinden sollten. Aus diesem Grund wurde das Avangard-Projekt, dessen Ursprung bereits in der Zeit der Sowjetunion liegt, wiederbelebt. Im März 2018 stellte Putin noch weitere Waffensysteme vor, die den in Alaska und Kalifornien stationierten US-Raketenschild überwinden sollen. Darunter einen nuklearbetriebenen Marschflugkörper sowie einen Nukleartorpedo mit einer Sprengkraft von einer Megatonne, der - wenn er detoniert - einen radioaktiven Tsunami auslösen soll und ganze Küstenstädte verschlingen würde.
Die Logik hinter den Aufrüstungsbestrebungen ist aus zweierlei Gründen infrage zu stellen. So funktioniert die Abwehr von ballistischen Raketen nicht. Um effektiv ein Land gegen Atomraketen zu schützen, muss ein Abwehrsystem fähig sein, mehrere Raketen gleichzeitig abzuschießen. Nach über 35 Milliarden Euro Investition schaffte es die US-Raketenabwehr in Tests seit 1999 jedoch nur, etwa die Hälfte aller Raketenziele abzuschießen. Und diese Tests fanden bis dato nicht einmal unter simulierten Kriegsbedingungen statt. Die Trefferquote würde durch den Einsatz von Täuschkörpern sowie von unabhängig voneinander lenkbaren Einzelsprengköpfen weiter sinken. Beides Technologien, die es seit Jahrzehnten gibt und im Kriegsfall eingesetzt würden. Zusammengefasst heißt das: Russische Interkontinentalraketen aus den 1970er-Jahren sind bis heute fähig, die USA und auch den Rest der Welt zu vernichten.
Der zweite Grund: Russland und die USA verfügen noch immer über Tausende Atomwaffen. Anzunehmen, ein einzelnes neues Waffensystem könnte das System der nuklearen Abschreckung aushebeln, ist also unbegründet. Selbst wenn Russland in einem Überraschungsangriff alle US-Atomraketen in ihren Silos und alle strategischen Bomber mit Avangard-Sprengköpfen zerstören würde, hätten die Amerikaner noch immer ihre fast unverwundbare und mit nuklearen Vergeltungswaffen bestückte U-Boot-Flotte, die Russland ausradieren könnte. Es gibt also keinen logischen Grund, anzunehmen, dass Russland oder die USA einen Atomkrieg anzetteln würden. Um Winston Churchill abgewandelt zu zitieren: Die nukleare Abschreckung ist vielleicht die schlechteste aller Strategien, ausgenommen aller anderen.
Moskaus Furcht vor einem Statusverlust
Warum also die Gefahr eines neuen Wettrüstens? Das hat mehrere Gründe. Zum einen definiert sich Russland hauptsächlich über sein Atomarsenal als Großmacht. Jedes auch nur hypothetische Szenario - wie der in Zukunft vielleicht funktionierende US-Raketenschirm - stellt für den Kreml eine unmittelbare Gefahr eines Statusverlustes dar. In Moskau und Washington sind allerdings auch Strategen im Aufwind, die die langfristige Ineffizienz von ballistischen Raketenabwehrsystemen trotz empirischer Daten anzweifeln. Gleichzeitig haben beide Seiten Interesse, aus Rüstungskontrollabkommen auszusteigen. So erhoffen sich die Amerikaner durch die von Präsident Donald Trump angekündigte Aufhebung des INF-Vertrags über die Eliminierung bodengestützter Mittelstreckenraketen günstigere Machtverhältnisse in Ostasien, da China nicht an den Vertrag gebunden ist.
Russland hingegen erhofft sich durch den Ausstieg und die Stationierung neuer nuklearen Mittelstreckenraketen, dass es zur strategischen Abkoppelung amerikanischer und europäischer Sicherheitsinteressen kommt. Der Vertrag zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen („New Start“), der die Anzahl von Sprengköpfen und Trägersystemen in beiden Ländern auf 1500 und 800 festlegt, läuft 2021 aus. Trump nannte das Abkommen einen „schlechten Deal“. Auch Moskaus Interesse an Neuverhandlungen scheint nicht groß.
Ein neuer Rüstungswettlauf bahnt sich an. Für Europa bedeutet dies unruhige Zeiten und wirft die Frage auf, wie lange europäische Politiker globale Verteidigungspolitik bewusst ignorieren oder als unwichtig abkanzeln können. Für eine atomwaffenfreie Welt einzutreten, wie es die Regierung in Wien tut, ist richtig. Jedoch sollte solch Symbolpolitik nie ernsthafte und mitunter unbequeme sicherheitspolitische Diskussionen, die verstärkt in Politikkreisen Europas stattfinden müssen, überschatten.