Sie waren, obwohl Sie gar nicht spielten, einer der Stars der Fußball-WM. Hat der Finaleinzug der Kroaten das Land verändert?
KOLINDA GRABAR-KITAROVIC: Ich bin nach Russland gefahren, weil ich Fußball liebe, nicht, weil ich meine Gefühle zur Schau stellen wollte. Das Besondere dieser WM war, dass sie in Kroatien den Sinn für die nationale Einheit wiederbelebt hat.
Wie war das, als Sie bei der Siegerehrung durchnässt neben Putin im Regen standen?
Das war der schönste Moment. Es schüttete, aber ich habe den Regen nicht wahrgenommen. Make-up und Haare waren mir egal. Luka Modric, der als Kind miterlebt hatte, wie im Krieg sein Großvater erschossen wurde, war zum besten Spieler gewählt worden. Er hielt die Trophäe in der Hand und ich nahm in seinen Augen fast eine Art von Traurigkeit wahr, eine Sehnsucht, die individuelle Ehrung einzutauschen für das Team. Das hat mich tief berührt.
Das Finale wirkte, als stünden einander zwei Konzepte von Europa gegenüber. Auf der einen Seite das ethnisch homogene Kroatien, ohne auch nur einen Spieler mit außereuropäischen Wurzeln. Auf der anderen Seite das bunte, multikulturelle Frankreich. Es war beinahe wie ein Endspiel um die Zukunft Europas. Haben Sie das auch so gesehen?
NGOs haben uns vorgehalten, keinen farbigen Spieler in unseren Reihen zu haben. Aber es ist nun einmal ein Faktum, dass kein farbiger Fußballer zur Auswahl stand. Viele unser Nationalspieler kommen aus ärmlichsten Verhältnissen vom Land und wurden durch die Erfahrungen des Krieges traumatisiert. So wie ich selbst haben sie von ganz unten ihren Weg gemacht. Der Einwand, sie seien Produkt ethnischer Kriterien, ist absurd.
Hat der Triumph das Land weiter oder enger gemacht?
Was meinen Sie mit enger?
Nationalistischer. Immerhin haben sich Ultras unter die Jubelnden gemischt.
Bitte nicht! Das macht mich wütend. Über Jahrzehnte hinweg war es uns Kroaten unter Tito verboten, unsere Herkunft zu benennen. Anstatt zu sagen: Ich bin Kroate, mussten wir sagen: Ich bin aus Kroatien. Wer seinen nationalen Stolz zum Ausdruck brachte, dem drohte das Gefängnis. Viele im Land sind noch immer von diesem Geist geprägt. Aber diese Gleichsetzungen sind lächerlich. Patriotismus ist nicht Nationalismus und das Entrollen einer Fahne nicht Faschismus. Ich komme aus einer antifaschistischen Partisanenfamilie, und trotzdem waren zu Hause alle Antikommunisten. Ich bin 1968 geboren, lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Mich interessieren diese alten Schablonen nicht. Das Einzige, was mich antreibt, ist, das Land voranzubringen und Verhältnisse zu schaffen, dass die Jungen, die zu Zehntausenden fortgegangen sind, wieder zurückkehren.
Leugnen Sie damit nicht, dass es das Problem der nationalistischen Ränder gibt?
Sicher, es gibt Einzelne an den Rändern, aber es gibt keine Bewegung. Ich will Ihnen nicht nahetreten, aber im Vergleich zu anderen EU-Staaten gehört Kroatien zu den liberaleren Ländern. Unser Parlament ist pluralistisch. Es gibt zwar Linksextreme und Rechtsextreme. Aber sie stellen keine Gefahr für unsere Demokratie dar. Schenken wir ihnen nicht die Aufmerksamkeit, die sie wollen! Sie haben nichts mit der Mitte der kroatischen Gesellschaft zu tun. Alles, was die Mitte will, ist ein besseres Leben.
Und dennoch wird das vereinte Europa gegenwärtig von einer Woge des Nationalismus erfasst, der nach rückwärts weist und das große Ganze bedroht. Warum findet er so viele Anhänger?
Gesellschaften schützen sich vor Gefahren von außen. Europa war in vielen Dingen zu entspannt und zu naiv. Anstatt gemeinsam den Wurzeln der Migration nachzugehen, etwa in der Entwicklungspolitik, haben wir zugelassen, dass 1,2 Millionen Leute nach Europa kommen, großteils junge Männer, die kräftig genug waren. Aber alle anderen, Frauen und Kinder, die nicht die Kraft und das Geld haben, bleiben zurück. Dabei würden gerade sie am meisten Schutz benötigen. Aber wir sind so scheinheilig und glauben, mit einer Verteilung der Lasten sei das Problem gelöst.
Wie geht Kroatien mit dem explosiven Migrationsthema um?
Wir zeigen Empathie. Aber wir sind nicht der Wartesaal für unzufriedene junge Männer, die in ein bestimmtes Land wollen, das ich jetzt nicht nenne. Vor ein paar Tagen war ich in einem überwiegend moslemischen Dorf an der kroatisch-bosnischen Grenze. Die Leute dort haben mir geschrieben: „Helfen Sie uns bitte, Madame Präsidentin!“ Gewaltsame Übergriffe hätten dramatisch zugenommen. Das hat mit Fremdenfeindlichkeit oder Feindseligkeit gegenüber dem Islam nicht das Geringste zu tun. Das ist der Hilfeschrei einer Bevölkerung, die sich bedroht fühlt.
Sie glauben also nicht, dass die Herausforderung mit Quoten gemeistert werden kann?
Europa kann nur eine begrenzte Zahl aufnehmen. Wenn man die Zugezogenen integrieren will, muss man ihnen Arbeit geben. Man kann die Leute nicht sich selbst und der Sozialhilfe überlassen. Das bringt nur die Steuerzahler auf. Wäre ich Flüchtling, hätte ich das Bedürfnis, Teil der Gesellschaft zu sein. Ungeachtet meiner Herkunft und Religion würde ich zu ihrem Gedeihen beitragen wollen.
Geschieht das nicht?
Europa hat die Leute hereingelassen, ohne eine Integrationsstrategie zu haben. Niemand hat den Ankömmlingen erklärt, was von ihnen erwartet wird. Ich war viele Male in Afghanistan. Glauben Sie mir, nicht jeder, der von dort kommt, ist demokratisch gesinnt. Dort habe ich eine Grundordnung erlebt, in der der Stellenwert des Mannes fundamental ist und der der Frau nachrangig. Und jemand, der nicht der eigenen Religion angehört, ist ein Feind. Es war naiv zu glauben, dass viele, die kommen, auf demselben Boden der Menschenrechte stehen wie wir. Um diese Leute zu integrieren, muss man sie erst erziehen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Frauen in Burka an den Straßenrändern hockten und von vorbeifahrenden Autos mit Wasser und Schlamm beschmutzt wurden. Ich war entsetzt. Aber dort wird das als normal empfunden. Es geht also auch um Bildung und die Verständigung mit den anderen Teilen der Gesellschaft.
Lässt sich so etwas verordnen?
Ich saß unlängst mit dem Mufti von Kroatien beim Abendessen. Der Mann war völlig erschöpft vom Bemühen, die Migranten in die kroatische muslimische Gemeinde einzugliedern, die ihrerseits vorbildhaft integriert und selbstverständlicher Teil der kroatischen Gesellschaft ist. Niemand fragt nach Herkunft oder Glauben. Der Mufti aber hat größte Mühe, die Stabilität zu wahren, die durch den Radikalismus mancher Migranten gefährdet ist. Zugleich ist er getrieben vom Wunsch, dass jeder am Abend ein Bett und etwas zu essen hat. Dem Mann stand die Frustration ins Gesicht geschrieben.
Was muss geschehen?
Ich bin zerrissen zwischen meinen ethischen Ansprüchen, dem Bedürfnis, jedem Einzelnen zu helfen, und dem nüchternen, pragmatischen Blick.
Helfen da die Parolen eines Orbán oder Salvini?
Ich kann Ungarn und Italien nicht verurteilen. Europa kann nicht das Elend der Welt tragen. Ich bin unter dem Kommunismus aufgewachsen und wollte nichts wie raus, wollte frei sein. Ich wollte in der Lage sein, im Geschäft zwischen mehreren Joghurtsorten auszuwählen, und nicht der Behörde mitteilen müssen, wie viel Brot ich in der nächsten Woche brauche.
Hat nicht jeder Flüchtling auch das Recht, das zu ersehnen?
Jeder auf dieser Welt hat ein Recht darauf. Aber die Verantwortung Europas kann sich nicht darin erschöpfen, eine bestimmte Anzahl von Menschen aufzunehmen und zu verteilen. Sichere Häfen allein sind nicht die Lösung. Das Problem ist viel komplexer. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen innerhalb unserer Möglichkeiten. Wir haben die Instrumente dafür. Aber Europa hat kläglich versagt. Wir haben unsere Aufmerksamkeit in die falsche Richtung gelenkt, nicht auf die Ursachen der Flucht, sondern auf deren Folgen.
Kann der Migrationsstreit das vereinte Europa zerstören?
Nicht in dem Sinn, dass Europa daran zerbricht. Das glaube ich nicht. Aber der Konflikt ist ein existenzielles Problem, weil er das Leitbild einer ideellen, solidarischen Gemeinschaft zersetzt und einen Keil zwischen die Menschen treibt.
(Gekürzte und korrigierte Version)