Am Morgen danach. Zukunft gibt es vorerst nicht. Verschoben wegen der Gegenwart. Am Dienstagabend wollte die Stadt diskutieren: „Chemnitz übermorgen – Wie sieht dein Chemnitz aus?“ 17.30 Uhr in einem Zirkuszelt. Um große Themen sollte es gehen, in lockerer Form wollte man mit den Bürgern darüber reden, wie es in den nächsten Jahrzehnten weitergehen soll mit der alten Industriestadt.
Nieselregen am Tag nach dem Auftrumpfen der rechten Szene. Und Entsetzen. Der Vormittag gehört immer erst den auswärtigen Erklärern und Deutern.
- Katja Kipping, Linken-Vorsitzende mit Wohnsitz in Dresden, befindet: Sachsens CDU trägt Mitschuld an den gewalttätigen Tumulten in Sachsen. Ein demokratiefeindlicher Notstand als Folge jahrzehntelanger Beschwichtigungspolitik in Ostdeutschland. Die Bundesregierung ist den Herausforderungen nicht mehr gewachsen.
- Werner J. Patzelt, der Dresdner Politikwissenschaftler: Die Ereignisse könnten der „Anfang einer Kette schlimmer Ereignisse“ sein. Der Rechtsstaat müsse jetzt alle Härte zeigen.
- Die deutsche Justizministerin Katarina Barley warnt vor dem Entstehen rechtsfreier Räume, Jagdszenen wie in den Tagen zuvor dürften sich niemals wiederholen. Der Grüne Konstantin von Notz findet, dass Innenminister Horst Seehofer seit Tagen schweige, sei skandalös.
- Die Gewerkschaft der Polizei meint, die Personalknappheit verstärke das Risiko von Selbstjustiz. Und es gebe diesen neuen, erschreckenden Trend, dass Menschen über soziale Medien so schnell mobilisierbar seien. Die Folge: Aus jeder Dorfschlägerei könne eine Hetzjagd werden.
Ein Anlass, ein Funke, die Ruhe ist dahin
Wie schnell das geht, weiß man in Chemnitz seit Sonntag und Montag genau. Eigentlich weiß man es schon länger in Sachsen. Seit den Krawallen vor der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau, seit der Randale in Freital, seit Clausnitz. Ein Anlass, ein Funke und mit der Ruhe ist es dahin. In Sachsen ist gerade heftiger Funkenflug.
Montag mitten in Chemnitz, wo in der Nacht zu Sonntag ein 35-Jähriger niedergestochen wurde. Daniel H., ein Deutscher, Tischler. Kein Neonazi, im Gegenteil. Er hatte eine Facebookseite, der man entnehmen konnte: Er mochte den Linken Gregor Gysi. Und: „Fuck Nazis“.
Zwei junge Männer haben ihn umgebracht, ein junger Syrer, ein junger Iraker. Mehrfach auf ihn eingestochen. Über Motiv und nähere Umstände macht die Polizei keine Angaben. Es gab eine verbale Auseinandersetzung, mehr weiß man nicht. Daniel H. starb auf dem Weg in das Krankenhaus.
Um das getrocknete Blut des Opfers Blumen und Kerzen. Und, freundlich gemeint, einige Bierflaschen. Neonazis und Hooligans haben übernommen. Sie stehen etwas entfernt neben den Blumen und beschimpfen Fotografen und Kameraleute. Bekannte und Freunde des Toten sind gekommen. Sie weinen.
Ein Kamerateam taucht auf. Mit eigenen Sicherheitsleuten. Die Kameraleute tragen Helme wie Kletterer am Berg. Sie wollen die Blumen filmen. „Haut ab!“, brüllt ein Glatzkopf. Wie ein Hund geht er auf sie los. Die Stimmung ist aggressiv. „Verpisst euch!“, rufen Umstehende. Keine Polizei in der Nähe.
Gerüchte, Halbwissen, Lügen
Kaum war der Familienvater tot, rauschte es in den sozialen Netzwerken. Gerüchte, Halbwissen, Lügen. Örtliche Hooligans rufen zum Kommen auf. Ein Funke und das Gemisch aus Wut, Frust und Hass zündete. 800 Menschen ziehen am Sonntag durch Chemnitz, nicht nur Trauernde. Flaschen fliegen auf die wenigen Polizisten. Menschen mit dunkler Hautfarbe werden angepöbelt. Es kommt zu Jagdszenen in einer deutschen Großstadt.
Am Montag sind es bereits mehrere Tausend Wütende in Chemnitz. 2000, 3000, vielleicht 6000, genau weiß das keiner. Auf der anderen Straßenseite 1000 oder 1500 aus dem linken Spektrum. Wenige Stunden zuvor war Sachsens Innenminister Roland Wöller noch im Regionalfernsehen aufgetreten. Hatte die Polizei gelobt, hatte zu Besonnenheit und Ruhe aufgerufen und dazu, Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Arbeit bei der Aufklärung des Tötungsdeliktes tun zu lassen.
Zwei feindliche Lager
Es sollte nichts nützen. Es zählt nicht, was ein Minister meint. Es gibt zwei feindliche Lager: die vielen Rechten und die eher wenigen Linken, dazwischen die Straße, die Polizisten, später noch zwei Wasserwerfer, und überall Journalisten. Am Tatort: eine Rednerbühne neben dem Nischel, wie die Chemnitzer sagen, dem dicken Kopf von Karl Marx. „Das hier ist unsere Stadt!“, brüllt jemand. „Das ist unser Land!“ Junge Männer zeigen den Hitlergruß, andere rufen: „Ausländer raus!“ Sie wollen aber keine Rechten sein, sie „wollen nur unser Land zurück“.
Menschen halten eine Gasse frei für jene, die Blumen ablegen. Kränze mit Deutschlandfahnen, Umstehende applaudieren. Es ist ein unübersehbarer Sieg der Rechten. Sie machen, was sie wollen, verjagen die Presse, brechen in Gruppen aus, um Linke zu attackieren. Hin und wieder fliegen Flaschen, Steine. Alles geschieht großteils ungehindert, weil noch immer zu wenige Polizisten in den Einsatz beordert wurden. Überall schimpfende Menschen: „Merkel muss weg“ und „Lügenpresse“.
Dementis und Verdächtige in Haft
Am Dienstag teilt die Polizei erste Ermittlungsergebnisse mit. „Dem tödlichen Messerangriff am Rande des Stadtfestes ist kein sexueller Übergriff auf eine Frau vorausgegangen“, sagt Landespolizeipräsident Jürgen Georgie und dementiert Geschichten, mit denen Stimmung gemacht wurde. Georgie zufolge gab es einen eskalierenden Streit zwischen zwei Männergruppen, bei dem irgendwann Messer gezückt wurden. Die Verdächtigen sitzen in Untersuchungshaft.
Ökonomen warnen vor den Folgen der Krawalle für Sachsen und Ostdeutschland. Ministerpräsident Michael Kretschmer äußerst sich. Er sieht mitgenommen aus. „Das ist auch Stimmungsmache gegen den Staat und seine Institutionen. Es ist zum Teil ein Angriff auf unsere Wahrheitssysteme.“
Sachsen kommt nicht zur Ruhe. Vor dem Dresdner Landtag sind zur Kaffeezeit Demonstrationen angekündigt, eine zum Schutz von Familien, eine gegen rechten Hass. Und neue Umfragen gibt es: Sachsens lange sieggewohnte CDU liegt bei 30 Prozent, die AfD bei 25, die SPD – der Juniorpartner der CDU – bei elf Prozent.
Käme es so bei der Landtagswahl im kommenden Jahr, kein Mensch wüsste, wer noch mit wem regieren sollte.