Die türkische Lira ist in freiem Fall, die Dollarschulden der Banken und anderer Großunternehmen werden dadurch bald unbezahlbar – es droht eine umfassende Schuldenkrise, ein wirtschaftlicher Kollaps. Präsident Erdogans ganzes Machtgefüge ist in Gefahr – und das kann schwerwiegende Folgen für die ganze Region, gar für die Welt nach sich ziehen. Von einem Austritt aus der Nato bis hin zu einer Aussöhnung mit der EU ist vieles denkbar. Hier sind fünf Szenarien, wie sich die Krise weiter entfalten könnte.
1. Erdogan kapituliert.
Der Währungsverfall in der Türkei hat viele Gründe, aber akut verschärft hat die Krise die Weigerung Ankaras, einer Forderung von US-Präsident Donald Trump zu entsprechen. Nämlich, den unter fadenscheinigen Vorwänden des „Terrorismus“ verdächtigten und seit 20 Monaten festgehaltenen US-Pastor Andrew Brunson freizulassen. Erdogan könnte das einfach machen (und hinter den Kulissen gibt es Gerede von einer Frist bis Mittwoch, die die USA gesetzt hätten). Er würde dann aber Gesicht verlieren.
Immerhin scheint die Option noch offen – trotz aller donnernden Phrasen Erdogans, die USA könnten „niemals die stolze türkische Nation in die Knie zwingen“. Am 13. August klang Außenminister Cavusoglu sehr viel kompromissbereiter, als er sagte, dass „Dialog und Diplomatie“ zur Lösung führen würden. Sollte die Türkei den Pastor freilassen, würde das die akute Krise entschärfen, das grundlegende Problem der türkischen Wirtschaft würde aber bestehen bleiben: Das Land muss sein permanentes Leistungsbilanzdefizit durch Zufluss von ausländischem Kapital finanzieren, Erdogan besteht aber auf niedrigen Zinssätzen der Nationalbank – beides zusammen geht auf Dauer nicht.
2. Bruch mit den USA, raus aus der Nato.
Schon seit Jahren gibt es in der Region kaum ein gemeinsames Interesse mehr zwischen Türken und Amerikanern. In Syrien, beim Kampf gegen den IS, bei der Haltung gegenüber den Kurden, Ägypten, Israel, dem Iran – in all diesen Bereichen verhält sich die Türkei nicht wie ein strategischer Partner, sondern wie ein strategischer Gegner der USA. Das Land hat unter Erdogan erstmals seit seiner Gründung als moderner Staat außenpolitische Ambitionen: Regionale Vormacht werden in der Tradition des osmanischen Reiches, als Bannerträger des Islam. Insofern existiert die Partnerschaft mit den USA nur noch theoretisch. Erdogan hat gedroht, sich „andere Partner“ zu suchen.
Ein kompletter Bruch erscheint derzeit zwar undenkbar, hätte aber unabsehbare Folgen. Die ohnehin krisengeplagte Nato könnte darüber bedeutungslos werden, die Europäer wären neuen Bedrohungen ausgesetzt. Ganz konkret Griechenland: Eine Türkei, die nicht mehr durch die Nato-Mitgliedschaft gebunden ist, könnte versuchen einige von ihr beanspruchte griechische Inseln zu erobern und Europa mit muslimischen Flüchtlingen überfluten. Ein bei diesem Szenario zu erwartender Zusammenbruch der Wirtschaft könnte politisch ausgeglichen werden durch einen patriotischen Schub in der Innenpolitik. Außenpolitisch ist es aber für die Türkei unmöglich, „neue Partner“ zu finden, die gleichgewichtig wären mit den USA – Russland bringt nicht genug Gewicht auf die Waagschale, und für China ist die Türkei nicht wichtig genug.
3. EU gegen die USA ausspielen.
Türkische Kommentatoren ziehen derzeit merkwürdige historische Vergleiche: Das Land befinde sich in einer Lage wie im Ersten Weltkrieg, als man gegen die westlichen Alliierten kämpfte – zusammen mit Deutschland. Tatsächlich sind aus Berlin harsche Töne gegen die USA zu vernehmen, Deutschland und die EU verurteilen die amerikanischen Sanktionen gegen die Türkei. Kein Wunder: Eine umfassende Wirtschaftskrise in der Türkei, ein Kollaps der türkischen Banken würde auch europäische Banken und Unternehmen in Mitleidenschaft ziehen.
Die Türkei könnte versuchen, sich Berlin und der EU zuzuwenden, um sie gegen die USA auszuspielen und ihre EU-Beitrittskandidatur etwas ernster zu nehmen, um mehr europäische Kredite zu erhalten. Ohnehin ist der Ton zwischen Türken und Europäern in letzter Zeit wieder etwas weniger eisig, seit fast einem Jahr signalisiert die türkische Regierung dass sie „zu wenige Freunde“ habe in der Welt. Die Europäer ihrerseits haben viel zu verlieren: Eine feindselige Türkei kann die Flüchtlingskrise jederzeit neu beleben.
4. Kollaps und Machtverlust.
Die Wirtschaftskrise kann außer Kontrolle geraten, und im Prinzip könnte das auch Erdogans Macht erschüttern – in der Praxis ist letzteres aber unwahrscheinlich. Wie auch immer es weitergeht, die Türken werden die Krise am eigenen Geldbeutel spüren (und spüren sie bereits jetzt sehr empfindlich). Alles, was importiert wird, ist sündhaft teuer geworden, Autos, Telefone, Computer, Benzin. Aber politisch wird all das vorerst keine Folgen haben. Erdogan wurde gerade erst wiedergewählt – er hatte die Wahlen um 18 Monate vorgezogen, unter anderem weil er die wirtschaftlichen Probleme kommen sah. Alle Oppositionsparteien haben sich in der Dollarkrise auf seine Seite gestellt: Diesr sei eine amerikanische Attacke gegen die Türkei. Unruhen, Massenproteste, Neuwahlen sind vorerst nicht in nennenswertem Umfang zu erwarten.
5. Wirtschafts-Reformen.
Auch wenn die Krise jetzt beschleunigt wurde durch den politischen Druck der USA, bleibt sie vor allem eine Währungs- und Wirtschaftskrise. Die Türkei kann versuchen, sie mit wirtschaftspolitischen Instrumenten zu lösen. Immerhin hilft die schwache Währung ihren Exporten, drosselt den Import, fördert den Tourismus und hilft so, das chronische Leistungsbilanzdefizit einzuhegen. Die Regierung kündigte ein Aktionsprogramm an, um die türkische Lira zu unterstützen. Banken und Unternehmen, die Dollar brauchen um ihre Kreditraten zu tilgen, soll geholfen werden. Die Anforderungen für Reserven, die Banken bei der Zentralbank halten müssen, wurden um 250 Basispunkte gesenkt, wodurch die Liquiditätsprobleme der Geldinstitute gelindert wurden.
Das grundlegende Problem, dass Staatspräsident Erdogan die Wirtschaftspolitik im Grunde selbst lenken will (Finanzminister ist sein Schwiegersohn) und ausländische Investoren damit abschreckt, dürfte allerdings kaum lösbar sein, solange er an der Macht ist.