Recep Tayyip Erdogan hat sein Ziel erreicht. Gestern hat der alte und neue Staatspräsident in Ankara den Amtseid abgelegt. Nun ist er der mächtigste Politiker der Türkei seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk.
Ab sofort entscheidet er alles. Er bildet selbst sein Kabinett, das er am Montag vorstellte. Einen Ministerpräsidenten gibt es nicht mehr, denn in der von Erdogan per Referendum durchgedrückten neuen Verfassung entfällt der Posten des Regierungschefs ganz. Staats- und Regierungschef sind derselbe: Recep Tayyip Erdogan.
Es ist eine Machtfülle, die eigentlich durch nichts mehr eingeschränkt wird. Richter, die unliebsam entscheiden, stehen bald selbst vor Gericht. Journalisten, die unliebsam berichten, sind bald im Gefängnis. Von der zersplitterten Opposition droht keine Gefahr – die Wahlen haben es erneut gezeigt. Es gibt keinen Machtfaktor außerhalb des Staatsapparates, der Erdogan gefährlich werden könnte.
Innerhalb des Staatssystems gibt es nur noch eine potentielle Gefahrenquelle, von der schon seit der Zeit der Osmanen immer Ungemach drohte für den jeweiligen Herrscher des Landes: Die Sicherheitskräfte. Viermal brachte das Militär seit 1960 gewählte Regierungen zu Fall, und ein der fünfter Versuch – gegen Erdogan – misslang im Juni 2016.
So mutet es an wie ein Signal für Erdogans künftigen Regierungsstil alsPräsident, dass am Wochenende per Dekret mal wieder ein eiserner Besen durch die Reihen von Armee, Luftwaffe, Marine und Polizei fegte. 18632 öffentlich Bedienstete wurden gefeuert. Sie alle müssen gewärtigen, bald vor Gericht zu kommen wegen „Terrorismus“. 148 andere, die von früheren Säuberungswellen erfasst worden waren, wurden rehabilitiert und wieder in ihre früheren Posten eingesetzt.
Diesmal traf es vor allem die Polizei: 8998 der Entlassenen waren Polizisten, 649 weitere Gendarmen – die Gendarmerie ist im Charakter militärisch, aber anders als die Armee für den Einsatz im Inland gedacht, gegen innere Bedrohungen, und untersteht dem Innenministerium. Dazu wurden 3077 Angehörige der Landstreitkräfte entfernt, sowie 1949 Mann aus der Luftwaffe und 1126 aus der Kriegsmarine gefegt. Nebenbei traf es auch mehr als 1000 Angehörige des Justizapparates und 200 Hochschullehrer. Ein TV-Sender, zwölf Vereinigungen und drei Zeitungen wurden geschlossen.
Das Ziel der Säuberungen sind Gülens Anhänger
Selbst Experten geraten ins Grübeln bei der Frage, die wievielte Säuberungswelle dies nun genau war. Allein seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juni 2016 wurden – mit den jetzigen 18.000 – insgesamt zwischen 170.000 bis 190.000 öffentliche Bedienstete entlassen. Gegen die meisten von ihnen gab es danach Ermittlungsverfahren, zum Stand April 2018 sind seit dem Coup-Versuch 77000 Türken inhaftiert worden unter dem Vorwurf, an dem Putsch beteiligt gewesen zu sein oder mit den Putschisten sympathisiert zu haben. All das im Rahmen der Notstandsgesetze, die nach dem Putsch eingeführt und sieben mal verlängert wurden.
Das erklärte Ziel dieser Säuberungen ist es, „Gülenisten“ aus dem Staatsapparat und den Sicherheitskräften zu entfernen, also Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Erdogan beschuldigt ihn, den Putschversuch organisiert zu haben. Experten sind sich da weniger sicher. Gülen-Anhänger nahmen zweifellos an dem Coup teil, die treibende Kraft dürften aber die letzten säkular gesinnten „Kemalisten“ im Militär gewesen sein, gegen die kurz vor dem Putsch eine Entlassungswelle in Vorbereitung war.
Regierungsnahe Medien schilderten die neuen Entlassungen als „die letzten“. Säuberungen ist damit aber nicht unbedingt gekommen. Es gab sie ja auch nicht erst seit dem Putschversuch oder seit den Notstandsgesetzen. Massenhafte Verhaftungswellen gegen potentielle Gegner gibt es unter Erdogan seit zehn Jahren. Die sogenannten Ergenekon-Prozesse gegen 275 Militärs begannen im Jahr 2008. Weitere folgten.
Damals ging es darum, die politische Macht des säkularen, „kemalistisch“ gesinnten Militärs zu brechen, dessen Führung es als seine Aufgabe betrachtete, islamistische Kräfte von der Macht fernzuhalten und das Land strategisch in der westlichen Welt zu verankern. Inzwischen ist das Militär weitgehend transformiert, kemalistische Netzwerke dürfte es darin nur noch als schwache Überbleibsel geben.
Eine treibende Kraft, um die Streitkräfte personell zu säubern und zu unterwandern, waren Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in der Justiz und der Polizei.
Erdogan ließ das geschehen, weil es ihm nützte. Er sah die Gülenisten als ein Instrument in seinem Kampf gegen das Militär. Die Folge war am Ende eine Schwächung der Kemalisten und eine Stärkung der Gülenisten in den Streitkräften. Beide zusammen wandten sich dann beim Putschversuch im Juni 2016 gegen Erdogan – die Gülenisten deswegen, weil Erdogan sie bereits seit einigen Jahren in die Enge trieb, da die einstigen Verbündeten ihm zu mächtig geworden waren.
Anklang an Stalins paranoide Säuberungen
Längst aber geht es nicht mehr um Gülenisten oder Kemalisten. Es gibt sie kaum noch. Seit 2016 kann Erdogans strafende Hand jeden treffen, der ihm nicht loyal genug erscheint. Die seit 2007 anhaltenden periodischen Verhaftungs- und Entlassungswellen ähneln immer mehr den paranoiden Säuberungen Stalins in der Sowjetunion der 30er Jahre. Es geht kaum noch darum, tatsächliche Umsturzversuche zu unterbinden, sondern um die Einführung eines Systems, in dem niemand einflussreich genug werden kann, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, sich gegen den Herrscher zu stellen.
Niemand – außer den Allerverlässlichsten – bleibt lange genug an seinem Posten um Macht und Verbündete aufzubauen. Jeder muss ständig über seine Schulter blicken und sich Sorgen darüber machen, wie man ihn an höherer Stelle politisch einschätzt. Längst gehört es zu den Routineaufgaben der Behörden, Zehntausende von Menschen politisch zu profilieren – wer sympathisiert mit wem, wie steht derjenige zu Erdogan? Studenten, Lehrer, öffentlich Bedienstete, Angehörige der Sicherheitskräfte – alle werden beobachtet, eingeschätzt, aufgelistet.
Solche Listen sind dann die Basis der jeweils aktuellen Säuberungswellen. Nur weil es diese Listen bereits gab, konnten die Behörden nach dem Putschversuch umgehend Zehntausende Menschen entlassen und viele von ihnen verhaften.
Der große Bruder sieht jeden
Wie das funktioniert, geht indirekt aus den offiziellen, stichwortartigen Begründungen für die jetzigen Entlassungen vor. „Emniyet“ steht da in vielen Fällen, Grundlage für die Entlassung war also eine Einschätzung der Sicherheitsbehörden. In vielen Fällen stehen da aber auch Vermerke wie „Schule“ – jemand hat den Betreffenden, vielleicht ein Lehrer oder Student - also wohl dort denunziert. Oder: „Nach Meinung der Gemeinschaft“ – da mögen Nachbarn jemanden verpfiffen haben, oder der Nachbarschaftsvorsteher.
Eine neue Zeit bricht an in der Türkei. Der große Bruder sieht jeden.
Boris Kálnoky