Die Türkei wählt am kommenden Sonntag ein neues Parlament und einen Präsidenten. Die Wahlen sind von großer Bedeutung für die Zukunft des Landes, weil mit der Abstimmung gleichzeitig eine Verfassungsreform umgesetzt wird, die die Türkei stark prägen wird. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Warum wird jetzt gewählt?
Die Wahlen waren eigentlich erst für den November 2019 geplant, Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ sie um fast eineinhalb Jahre vorziehen. Hintergrund dürfte gewesen sein, dass die Wirtschaft in immer schwereres Fahrwasser gerät und Erdogan sich bessere Chancen bei einer früheren Wahl ausrechnete. Allerdings ist die wirtschaftliche Lage jetzt schon prekär, die Inflation ist hoch, die Lira verliert an Wert.
Was wird gewählt?
Der Präsident steht zur Wahl, neben Erdogan bewerben sich fünf Kandidaten von fünf Oppositionsparteien um den Posten. Umfragen zufolge ist der aussichtsreichste Herausforderer Muharrem Ince von der größten Oppositionspartei CHP. Auch die neuerdings 600 Abgeordneten im Parlament werden gewählt, bisher waren es 550. Erdogans AKP will ihre absolute Mehrheit im Parlament halten.
Wieso ist die Wahl so wichtig?
Mit der Abstimmung wird die Einführung des im vergangenen Jahr per Verfassungsreferendum beschlossenen Präsidialsystems abgeschlossen. Das neue System geht auf Erdogan zurück, es ist sein wichtigstes politisches Projekt. Der künftige Präsident wird deutlich mächtiger als bisher, er wird zugleich Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Die Opposition befürchtet im Fall eines Erdogan-Sieges eine "Ein-Mann-Herrschaft".
Wird die Wahl frei und fair?
Beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr - das Erdogans Lager gewann - prangerte die Opposition Wahlbetrug an. Bei der Wahl am Sonntag will die Opposition mehr als 600.000 Wahlbeobachter mobilisieren. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Parlamentarische Versammlung des Europarates entsenden eine kleinere Zahl internationaler Beobachter. Die türkische Regierung verweigerte allerdings zwei OSZE-Beobachtern die Einreise.
Wie stehen Erdogans Chancen?
Erdogan dürfte bei der Wahl am Sonntag die mit Abstand meisten Stimmen gewinnen, Umfragen zufolge ist aber nicht gesichert, dass er in der ersten Runde die absolute Mehrheit holt. Sollte er diese verfehlen, müsste er am 8. Juli in die Stichwahl.
Was passiert bei einer Stichwahl?
Das Siegerimage Erdogans - der seit 16 Jahren keine Wahl verloren hat - wäre zumindest angekratzt, würde die Opposition ihn in die Stichwahl zwingen. Er müsste dann gegen den Zweitplatzierten antreten, aller Wahrscheinlichkeit nach Ince. Dieser könnte auf die Unterstützung vieler Anhänger der Opposition zählen, die wenig eint, bis auf ihre ausgeprägte Abneigung gegenüber Erdogan. Selbst die pro-kurdische HDP - die der CHP zwar kritisch gegenübersteht, die AKP aber noch stärker ablehnt - hat eine Unterstützung Inces in der Stichwahl angekündigt. Dennoch ginge Erdogan auch in eine Stichwahl als Favorit.
Was passiert, wenn Ince doch gewinnt?
Dann müsste Erdogan das Amt an ihn übergeben. Wie seine Anhänger darauf reagieren würden, ist ungewiss. Es wäre nach 16 Jahren Erdogan eine Zäsur für das Land. Ince will das Präsidialsystem wieder abschaffen und zum parlamentarischen System zurückkehren, wobei das weder einfach wäre noch schnell ginge: Dafür müsste erneut die Verfassung geändert werden. Ince hat ebenfalls angekündigt, den nach dem Putschversuch im Juli 2016 von Erdogan verhängten Ausnahmezustand wieder aufzuheben. Überraschenderweise hat das inzwischen auch Erdogan für den Fall seiner Wiederwahl versprochen.
Wie sieht es denn bei der Parlamentswahl aus?
Sollte die pro-kurdische HDP über die Zehn-Prozent-Hürde kommen, könnte Erdogans AKP die absolute Mehrheit im Parlament verlieren. Das wäre für Erdogan - der zugleich AKP-Chef ist - ein Problem: Sein Präsidialsystem ist nicht darauf ausgelegt, dass die Opposition im Parlament die Mehrheit hat. Er kann dann zwar per Dekret regieren, und das Parlament muss den Dekreten nicht zustimmen. Das Parlament kann aber Gesetze erlassen, die diese Dekrete wieder ungültig machen. Im schlimmsten Fall würden sich Präsident und Parlament gegenseitig blockieren, die Türkei wäre politisch gelähmt.
Was könnte dann passieren?
Entweder könnte Erdogan versuchen, Kompromisse mit der Oppositionsmehrheit im Parlament zu finden - wobei Kompromissbereitschaft keine Eigenschaft ist, für die er bekannt ist. Theoretisch könnte der Präsident das Parlament auch jederzeit auflösen und Neuwahlen ausrufen. Sein Verbündeter, MHP-Chef Devlet Bahceli, hat eine solche Möglichkeit bereits angedeutet. Das hätte aus Erdogans Sicht allerdings einen großen Haken: Nach dem neuen System muss der Präsident sich dann auch wieder zur Wahl stellen.
Was bedeutet die Wahl für Europa?
Erdogan hat seit Jahren ein angespanntes Verhältnis zur EU. Im vergangenen Jahr gab es eine schwere Krise mit Deutschland, die immer noch nicht vollständig ausgeräumt ist: Weiterhin sind Deutsche in der Türkei nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes aus politischen Gründen inhaftiert. Ince hat angekündigt, den Streit mit Deutschland zu beenden, im (unwahrscheinlichen) Falle seines Wahlsieges die europäischen Hauptstädte zu besuchen und den EU-Beitrittsprozess des ewigen Kandidaten Türkei voranzutreiben.
Wann wird gewählt - und wann kennen wir das Ergebnis?
Die Wahllokale öffnen um 07.00 Uhr (MESZ) und schließen um 16.00 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse werden noch am Abend erwartet. Bei früheren Wahlen stand der Sieger noch in der Nacht fest. 59,33 Millionen Stimmberechtigte dürfen wählen. Davon sind 3,05 Millionen im Ausland registriert, wovon wiederum die Türken in Deutschland mit 1,44 Millionen die größte Gruppe stellen. In Österreich sind 106.657 Wähler registriert, hier lag die Wahlbeteiligung bei 51,8 Prozent. Im Ausland wurde bereits abgestimmt, in Österreich endete die Wahl am Dienstag. An Grenzübergängen, Häfen und Flughäfen der Türkei können Auslandstürken aber noch bis zum Wahltag am Sonntag ihre Stimme abgeben.
Can Merey/dpa