Über sechs Stockwerke reicht das Plakat an der Fassade des Bürogebäudes im Istanbuler Finanzviertel Levent. Es zeigt Recep Tayyip Erdoğan. „Große Türkei, starker Führer“, steht in Riesenlettern neben dem Porträt. Nur halb so groß prangt am Nachbargebäude das Konterfei von Muharrem Ince. Er tritt für die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) am Sonntag bei der Präsidentenwahl gegen den Amtsinhaber an. Während Erdogans Blick in weite Ferne gerichtet scheint, sieht Ince den Passanten von dem Plakat offen in die Augen. Er lacht, zeigt die Zähne. „Präsident für alle Türken“, lautet sein Slogan.
„Dass ich je einen Kandidaten der verstaubten CHP wählen würde, hätte ich nicht gedacht“, sagt Behice. „Aber diesmal bekommt Ince meine Stimme.“ Die 38-Jährige, die in einer Werbeagentur im Stadtteil Cihangir arbeitet, hat 2002 Erdoğan und seine AKP gewählt. Damals steckte die Türkei in einer schweren Finanzkrise. „Erdogan repräsentierte einen neuen, dynamischen Politikertyp, wir haben viele Hoffnungen mit ihm verbunden.“ 16 Jahre später ist Behice ernüchtert. Sie spricht von einem „Klima der Angst und der Einschüchterung“. Heute sieht sie den einstigen Hoffnungsträger Erdogan als Bedrohung. „Ich will in einer freien Türkei leben, nicht in einer Diktatur“, sagt Behice.
Es sind Schicksalswahlen, zu denen die Türken am Sonntag gehen, Schicksalswahlen für Erdogan und für das Land. Zum ersten Mal wählen sie gleichzeitig ein neues Parlament und einen Präsidenten. Der Urnengang markiert die Zäsur von der parlamentarischen Demokratie zum neuen Präsidialsystem. Seit 15 Jahren dominiert Erdogan die politische Bühne. Bei dieser Wahl muss er sich gegen gleich fünf Konkurrenten behaupten. Neben CHP-Kandidat Ince sind das u. a. die Nationalistin Meral Aksener und der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas. Gewinnt Erdoğan, stärkt er seine Macht mit den neuen Befugnissen, die ihm die Präsidialverfassung gibt.
Erdoğan und die Türkei
Am Anleger von Kadiköy, wo die Fähren vom asiatischen Teil Istanbuls über den Bosporus zum europäischen Ufer fahren, verteilt Can Flugblätter für die AKP, Erdoğans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei. „Erdoğan hat das geschafft, was Trump erst verspricht: Er hat die Türkei groß gemacht“, sagt der 22-Jährige. Und dann folgt eine Aufzählung von Erdogans Errungenschaften: „Der größte Flughafen der Welt, der längste Autobahntunnel, die längste Hängebrücke, neue Universitäten und Krankenhäuser ...“ Es sprudelt nur so aus Can hervor. „Erdogan hat mehr für die Türkei getan als irgendein anderer Politiker“, sagt der junge Mann.
Eine ganze Generation ist mit Erdoğan aufgewachsen. Aber gerade junge, urbane Wähler wenden sich von ihm ab. Beim Referendum vom April 2017, als die Türkei über das neue Präsidialsystem abstimmte, votierten 17 der 30 größten Städte mehrheitlich mit Nein. „Menschliche Materialermüdung“, konstatierte Erdogan nach dem ernüchternden Ergebnis und ließ Hunderte Parteifunktionäre ablösen, um die AKP wieder auf Vordermann zu bringen. Aber nun ist er es selbst, der Kampfgeist vermissen lässt. Der gebeugte Gang, die mürrische Miene: Erdogan wirkt müde und angreifbar. Seinem Wahlkampf fehlt das Feuer, die Begeisterung früherer Jahre will sich diesmal nicht so recht einstellen. Das liegt nicht zuletzt an der Wirtschaft.
Die Angst um die Ersparnisse
Murat arbeitet in einer Wechselstube an der Istiklal Caddesi, der traditionsreichen Einkaufsstraße im Istanbuler Viertel Beyoglu. 4,75 Lira kostet der Euro heute. Vor vier Tagen waren es noch 4,47 Lira. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Kurs über fünf Lira springt“, sagt Murat. Wechselstuben wie diese gehören zum Straßenbild der türkischen Städte. Viele Menschen legen ihre Ersparnisse traditionell in Devisen an, um der Geldentwertung ein Schnippchen zu schlagen. „In den vergangenen Wochen hat die Hektik deutlich zugenommen“, sagt Murat. „Manche Geschäftsinhaber kommen jetzt jeden Abend vorbei, um ihre Tageseinnahmen in Dollar oder Euro zu wechseln.“ Die Inflation kletterte im Mai auf über zwölf Prozent, auch das Leistungsbilanzdefizit steigt. Viele Ökonomen sehen darin Vorboten einer drohenden Finanzkrise.
Erdoğan verteilt derweil Wahlgeschenke. Er verspricht Pensionserhöhungen, Steuerstundungen, die Legalisierung von Schwarzbauten, staatliche Kaffeehäuser, in denen die Bürger kostenlos Mokka trinken können. Kann er damit gewinnen? Die Meinungsumfragen lassen keine eindeutige Prognose zu. Ähnlich widersprüchlich sind die Erhebungen zur Parlamentswahl.
Die Kurden und die Absolute
Viel hängt von der Kurdenpartei HDP ab. Schafft sie erneut den Sprung ins Parlament, könnte Erdoğans absolute Mehrheit in Gefahr geraten. Offen ist allerdings gerade in der Kurdenregion, wie frei und fair die Wahlen ablaufen werden. Unter dem Ausnahmezustand konnten die Behörden Wahlkundgebungen nach Gutdünken verbieten. Die meisten Medien sind gleichgeschaltet, die Opposition kommt kaum zu Wort. Dennoch: „Es gibt eine Wendestimmung“, glaubt die 38-jährige Behice, „die Menschen haben genug von Erdogan und seiner Partei, von der ständigen Bevormundung, den Moralpredigten und den Kriegen, in die er das Land hineinzieht.“
Auch Muharrem Ince, Erdoğans wahrscheinlichster Gegner, wenn es zu einer Stichwahl kommt, glaubt an einen Machtwechsel. Die Türkei will atmen, sie will Frieden, sie will Ruhe“, sagte er der Nachrichtenagentur afp. „Sie will keinen erschöpften Mann, der schreit und tobt, sondern jemand Jüngeres, Gelasseneres.“
Erdoğan wurde schon oft politisch totgesagt. Er ist ein Kämpfer. Bisher ging er aus allen Herausforderungen gestärkt hervor, auch aus dem Putschversuch vom Juli 2016. Mehr als ein Dutzend Wahlen und Abstimmungen hat er in seiner politischen Laufbahn bereits absolviert - und alle gewonnen. Aber noch nie lagen Sieg und Niederlage so dicht beieinander wie diesmal.
Gerd Höhler / Istanbul