In Deutschland ist der Machtkampf in der Union eskaliert und bringt nach weniger als 100 Tagen die Koalition von Angela Merkel ins Wanken. Im Streit über die Zurückweisung von Flüchtlingen drohte Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Donnerstag mit einem Alleingang. Die CSU wies Merkels Vorschlag zurück, in den kommenden beiden Wochen auf europäischer Ebene eine Lösung für das Problem zu finden.
Stattdessen setzte die Schwesterpartei der CDU-Chefin ein Ultimatum bis Montag und kündigte indirekt an, Seehofer könne andernfalls eigenmächtig eine Zurückweisung von Migranten an der Grenze anordnen. Seehofer will am Montag seinen "Masterplan" präsentieren, die Zurückweisung ist einer von 63 Punkten, die der Minister teils umgehend per Ministerbescheid - auch ohne Zustimmung der Kanzlerin - umsetzen möchte.
Rechtlich betrachtet könnte Seehofer als Innenminister durchaus die Bundespolizei eigenmächtig anweisen, bestimmte Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen. Er bräuchte dafür nicht die Zustimmung der Kanzlerin oder des Kabinetts. Faktisch würde das aber wohl das Ende der Regierung bedeuten. Die Kanzlerin könnte, wenn sie den Alleingang verhindern wollte, Seehofer das Vertrauen entziehen und ihn als Minister entlassen. Bei einem Bruch zwischen den Unions-Parteien hätte die schwarz-rote Koalition aber keinen Bestand mehr.
Merkel kämpft
Trotz der Zuspitzung rechnet Merkel nach eigenen Angaben nicht mit einem Bruch der Koalition. Auf die Frage, ob sie damit rechne, angesichts des Unions-Konflikts im Herbst noch im Amt zu sein, sagte Merkel: Das Treffen mit den Ministerpräsidenten habe sie bestärkt, schneller und konzentrierter bei den anstehenden Projekten zu arbeiten, "und ich gehe davon aus, dass wir das auch gemeinsam tun, auch die Bundesregierung".
Seehofer will notfalls per Ministerentscheid handeln und dazu am Montag den Auftrag des CSU-Vorstandes einholen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hatte zuvor erklärt, dass das Kompromissangebot der CDU nicht ausreicht: "Wir sind im Endspiel um die Glaubwürdigkeit. Die Menschen haben die Geduld verloren."
"Für eine gemeinsame Fraktion könnte es sehr eng werden", zitierte die "Augsburger Allgemeine" einen namentlich nicht genannten "führenden" CSU-Abgeordneten. "Zum Bruch fehlt nicht mehr viel", sagte der CSU-Politiker demnach.
Beobachter fassungslos
Deutsche Medien, auch führende Politiker der CDU zeigten sich fassungslos über diesen neuen Ton, darüber, dass die CSU mit Innenminister Horst Seehofer nahtlos an die Auseinandersetzung im Gefolge der Flüchtlingswelle 2015 anschließe und die Kanzlerin so unter Druck setze. Es war davon die Rede, dass Angela Merkel "zur Strecke gebracht" werden solle, im hilflosen Bemühen, der AfD Paroli zu bieten.
In der Sondersitzung der CDU hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) parallel zur Sitzung der CSU ausgelotet, ob die Abgeordneten ihrer Partei in dem Konflikt mit Innenminister Horst Seehofer (CSU) hinter ihr stehen. Das CDU-Präsidium stellte sich in einer Erklärung bereits hinter die Parteivorsitzende.
Das Parteipräsidium unterstütze Merkel in ihrem Bestreben, "im Umfeld des Europäischen Rates mit den am stärksten vom Migrationsdruck betroffenen Ländern Vereinbarungen zu treffen", die eine Zurückweisung von dort bereits registrierten Flüchtlingen ermöglichen würden, teilte die Partei mit. Das Ziel sei, "unabgestimmte, einseitige Lösungen zu Lasten Dritter zu verhindern".
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hatte zuletzt noch Öl ins Feuer gegossen:
In der Debatte innerhalb der CDU betonten laut Teilnehmerkreisen viele, dass es um mehr als Flüchtlinge, sondern um Grundsätze der Europapolitik gehe. Zu den Merkel-Unterstützern habe auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gehört. Es habe aber auch abweichende Stimmen gegeben, die forderten, die CSU-Position zu übernehmen.
Entbrannt hatte sich der innerdeutsche Asylstreit zuvor an einem Vorschlag von Innenminister Seehofer, der bereits in anderen EU-Staaten registrierte Asylbewerber an der deutschen Grenze zurückweisen will. Merkel pocht auf europäische Lösungen und lehnt nationale Alleingänge ab. Die beiden kamen am Mittwochabend zu einem Krisengespräch im Kanzleramt zusammen.
Bei dem Treffen bot Merkel nach Informationen der "Bild"-Zeitung an, bis zum nächsten EU-Gipfel in zwei Wochen Abkommen mit allen Ländern, besonders im Mittelmeer-Raum, zu vereinbaren, in die Migranten zurückgeschickt werden könnten. So soll eine juristisch wasserdichte Rückweisung von Migranten an der deutschen Grenze ermöglicht werden, die schon in anderen EU-Ländern Asylverfahren durchlaufen haben. Dies dürfte neben Italien unter anderem auch Griechenland betreffen.
"Nicht immer nur an ganz Europa denken"
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) pochte am Donnerstag erneut darauf, bestimmte Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückzuweisen. Er lehnte es ab, zuerst über europäische Lösungen zu verhandeln. Die "Regelung der Zurückweisung an der Grenze" solle jetzt rasch umgesetzt werden, sagte Söder in Berlin. "Wir müssen auch an die einheimische Bevölkerung denken und nicht nur immer an ganz Europa." Deutschland müsse jetzt vorangehen und nicht auf mögliche europäische Lösungen warten.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) stellte sich hinter die Kanzlerin. "Wenn Angela Merkel für eine europäische Lösung eintritt, dann hat sie auch meine Unterstützung", sagte Laschet der ARD. Er warnte eindringlich vor "Schnellschüssen". "Wenn wir ankündigen, jeder, der in einem anderen Land - in Italien, Griechenland - registriert ist, wird zurückgewiesen, fürchte ich, dass dann die Länder sagen, dann registrieren wir nicht mehr", warnte Laschet.
Vorwürfe gegen Seehofer
Die übrigen Parteien beäugen die Eskalation mit Sorge und machen Seehofer zum Teil schwere Vorwürfe. SPD-Chefin Andrea Nahles wies den CSU-Vorschlag strikt zurück und forderte ein Ende des Unions-Streits. "Theaterstücke im Dienste von Landtagswahlen sind hier nicht angemessen", sagte sie mit Blick auf die CSU, die im Oktober ihre Mehrheit bei der Landtagswahl in Bayern verteidigen will und in der Flüchtlings- und Asylfrage auf eine harte Linie pocht.
Die Grünen verurteilten Seehofers Vorgehen und sprachen von einer besorgniserregenden Regierungskrise. Seehofer missbrauche seinen Ministerposten für den CSU-Wahlkampf, rügte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter. Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht rief Merkel auf, die Koalition angesichts des Streits zu beenden. "Die Union ist offensichtlich nicht mehr regierungsfähig und zerlegt sich auf offener Bühne", sagte sie. "Merkel sollte jetzt Konsequenzen ziehen und der Bevölkerung eine Fortsetzung dieses Trauerspiels ersparen." Linke-Chef Bernd Riexinger forderte Seehofer zum Rücktritt auf. Die AfD bezeichnete den Unions-Streit als rein wahltaktisches Manöver.
Eine breite Mehrheit der Deutschen ist für eine konsequentere Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. In dem am Donnerstag veröffentlichten ARD-"Deutschlandtrend" sprechen sich 86 Prozent der Befragten für ein solches Vorgehen aus. Dass Flüchtlinge ohne Papiere nicht nach Deutschland einreisen dürfen, finden 62 Prozent der Befragten richtig.
Die umstrittene Einrichtung von Ankerzentren zur Erstaufnahme von Flüchtlingen bezeichneten 61 Prozent der Befragten als richtig. Für den "Deutschlandtrend" wurden am Montag und Dienstag dieser Woche 1006 repräsentativ ausgewählte Bundesbürger telefonisch befragt. Die Schwankungsbreite liegt bei 1,4 bis 3,1 Prozentpunkten.