Bei Angriffen der radikalislamischen Taliban im Norden und Westen Afghanistans sind am Samstag rund 40 Polizisten und Soldaten getötet worden. 

Die schlechte Sicherheitslage in Kabul beschert dem Online-Handel ein blühendes Geschäft: Um der Gefahr von Anschlägen und der weit verbreiteten sexuellen Belästigung in der afghanischen Hauptstadt zu entgehen, kaufen viele Kunden lieber im Internet ein. Doch die zunehmende Zahl an Bombeneinschläge behindert auch diesen Lieferservice.

In Afghanistan versperrt der anhaltende Krieg mit den radikalislamischen Taliban und anderen Terrorgruppen Millionen von Kindern den Zugang zu Bildung. Fast die Hälfte der 7- bis 17-Jährigen - Schätzungen der UNICEF zufolge sind das rund 3,7 Millionen - geht nicht zur Schule, heißt es in einer Studie, die das UNO-Kinderhilfswerk erstellte.

In Österreich und Deutschland versucht man, nach Jahren des zermürbenden Ansturms von Flüchtlingen, im Falle Deutschlands auch der Entsendung von Soldaten an den Hindukusch, Licht am Ende des Tunnels zu erkennen.

  • In Österreich wird Afghanen zunehmend der Schutzstatus aberkannt, auf Basis der Einschätzung eines Gutachters, die höchst fragwürdig ist.
  • In Deutschland lässt der neue Bericht  zur Sicherheitslage in Afghanistan Kanzlerin Angela Merkel darüber nachdenken, den bisher geltenden Abschiebestopp zu lockern, obwohl der Bericht eine klare Sprache spricht.

Das Dokument spricht von einer "weiterhin volatilen Sicherheitslage" in Afghanistan. Die afghanische Regierung sei sich ihrer Schutzverantwortung für die eigene Bevölkerung bewusst, "ist allerdings nicht immer in der Lage, diese auch effektiv umzusetzen".

"Regionale Unterschiede"

"Die Sicherheitslage in Afghanistan weist starke regionale Unterschiede auf", beschreiben die Experten des deutschen Auswärtigen Amts die Lage. "Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist." Das Justizsystem funktioniert auch aus der Sicht des Auswärtigen Amts allerdings "nur sehr eingeschränkt". Auch die Verwaltung sei "nur eingeschränkt handlungsfähig".

Die humanitäre Lage bleibe "schwierig", heißt es in der 31-seitigen Bewertung. "Die Versorgung von hunderttausenden Rückkehrern, vor allem aus den Nachbarländern Iran und Pakistan, und Binnenvertriebenen stellt das Land vor große Herausforderungen." Hinzu komme die "chronische Unterversorgung" der Bevölkerung in Konfliktgebieten.

Beamte orten "Aufbauphase"

Das Auswärtige Amt kommt in seinem lange erwarteten Lagebericht zu "asyl- und abschieberelevanten Ereignissen" in Afghanistan zu dem Ergebnis: "Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage." Die "Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen" in Afghanistan hingen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab.

Der neueste Lagebericht für Afghanistan sieht zwar eine "volatile Sicherheitslage", aber "keine systematische, staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung". Vor diesem Hintergrund hatte die CSU gefordert, den Abschiebestopp auf den Prüfstand zu stellen. Die SPD widersprach dieser Forderung umgehend.

Gutachten widerspricht

Höchst bedenklich erscheint der Versuch einer optimistischen Bewertung angesichts eines mehr als 300 Seiten umfassenden Gutachtens der anerkannten Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann vom März dieses Jahres für das Verwaltungsgericht Wiesbaden, das neuerdings auch von den österreichischen Behörden als Beweismittel anerkannt wird und  kürzlich dazu führte, dass einem Afghanen, dessen Familie im Iran lebt, in zweiter Instanz doch noch der subsidiäre Schutzstatus zugesprochen wurde.

Stahlmann hält auf mehr als 300 Seiten fest:

  • Die Gefahr, allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan in Lebensgefahr zu geraten, bestehe im gesamten Staatsgebiet.
  • Die Gefahr drohe durch Kampfhandlungen, Anschläge,  kriegsbedingt unkontrollierten Machtmißbrauch und Kriminalität sowie durch Verfolgungshandlungen und humanitäre Not.
  • Die Gefahr gehe aus von der militanten politischen Opposition (vor allem den Taliban), staatlichen Akteuren und ihren Verbündeten,  darunter auch internationalen Truppen, sowie privaten Akteuren.
  • Zivilpersonen, die aus dem westlichen Ausland zurückkehren sei es nicht möglich, diese Gefahren vorherzusehen bzw, ihnen auszuweichen.
  • Rückkehrer seien in erhöhter Gefahr, da sie auf keinerlei Unterstützung durch irgendwelche Netzwerke hoffen konnten, zumal ihre Familien oft schon vor Jahren in den Iran geflüchtet seien oder aber durch die vermeintliche Rückkehr eines Vermögenden extrem unter Druck gesetzt würden, etwa Schulden zurückzuzahlen. Sie selbst gelten als gescheitert.
  • Ohne Netzwerke finden die Rückkehrer in der Regel auch weder Arbeit noch Unterkunft, und zwar weder im städtischen noch im ländlichen Bereich.

Stahlmann zitiert auch eine Entschließung des europäischen Parlaments, wonach"Rückführungen nach Afghanistan das Leben der betroffenen Personen erheblich gefährden, insbesondere Alleinstehender, die in Afghanistan nicht auf ein Netz aus Familienangehörigen oder Freunden zurückgreifen können und daher geringe Überlebenschancen haben“.

Ihr Gutachten widerlegt die umstrittene Expertise des österreichischen Gutachters Karl Mahringer, eines Geschäftsmannes aus Liezen, wonach in Kabul oder Herat alles vorhanden sei, was man zum Leben braucht und jeder junge, kräftige Mann, der sich anstrenge, den Neubeginn schaffen könne, worauf viele negative Bescheide zurückgehen.

Reisewarnung

Wie unsicher es generell in Afghanistan ist, dokumentiert übrigens auch die Reisewarnung des österreichischen Außenministeriums: "Im ganzen Land besteht das Risiko von gewalttätigen Auseinandersetzungen, Raketeneinschlägen, Minen, Terroranschlägen und kriminellen Übergriffen einschließlich Entführungen, Vergewaltigungen und bewaffneter Raubüberfälle."

Eine Bestätigung der unsicheren Lage lieferte dieser Tage auch der "Spiegel" in Form eines Interview mit Hamid Karzai. Er war der erste demokratisch gewählte Präsident der Islamischen Republik Afghanistan. Der Paschtune regierte das kriegserschütterte Land nach der US-geführten Invasion von Dezember 2001 für 13 Jahre. Der 60-Jährige verfügt bis heute über erheblichen Einfluss, vor allem bei den Stämmen im Süden Afghanistans.

"Grandios gescheitert"

Im Interview mit SPIEGEL ONLINE zeichnet Karzai ein düsteres Bild der Lage in seinem Heimatland. Die Zahl der Extremisten nehme kontinuierlich zu, die Nachbarstaaten nutzen das Land als Schauplatz für ihre geopolitischen Machtkämpfe. "Anfangs waren wir ja erfolgreich, nach der Tragödie des Angriffs auf das World Trade Center in New York, 2001. Die Taliban wurden vertrieben, die Frauen erhielten ihre Rechte zurück, Institutionen wurden aufgebaut. Dann aber ging es grandios schief. So viele Leben wurden zerstört. Die Zahl der Extremisten ist um ein Vielfaches gestiegen. Der "Islamische Staat" operiert inzwischen auch in Afghanistan. Wir sind gescheitert. Nur, das kann man den Leuten in Amerika oder Deutschland schwer erklären - nach all den Opfern, die sie gebracht haben."

Die einzige Rettung gegen den Krieg sei, so Karzai, eine politische Lösung. Ein Frieden, an dem wirklich alle beteiligt sind, auch die Taliban. Dieser aber sei ein weiter Ferne. "Anfangs hatten wir alle Nachbarn Afghanistans an Board, dazu den Westen, Russland, China, Saudi-Arabien, Iran. Diese Einheit war der Schlüssel zum Erfolg. Jetzt sind all diese Länder zu Rivalen geworden. Sie versuchen, sich in Afghanistan gegenseitig zu schaden. Den Preis dafür bezahlen die Afghanen."

"Nein, Afghanistan ist nicht sicher"

Asylwerber mit afghanischer Staatsbürgerschaft, die um ihren Aufenthaltsstatus in Österreich fürchten, und ihre Begleiter vernetzen sich über eine neugegründete Plattform und hoffen, dass das Stahlmann-Gutachten zu einem Umdenken führt.

Die afghanische Botschafterin in Österreich, Khojesta Fana Ebrahimkhel, wurde bei einem Besuch in Oberösterreich von Landsleuten danach befragt, ob die Lage in ihrem Land Rückweisungen von Flüchtlingen zulässt, berichtet der "Kurier". Ihre Antwort: „Nein, Afghanistan ist nicht sicher und jeder weiß das.“