Alle paar Meter haben die Wahlkampstrategen an diesem Nachmittag einen Lautsprecherwagen postiert. Der Kampagnensong beschallt in eingängigem Latino-Pop die gesamte Avenida Bolívar. „Todos con Maduro, ya está el futuro“. Alle mit Maduro, die Zukunft ist schon da. Die Menschen, die ins Zentrum von Caracas gekommen sind oder kommen mussten, summen und singen den Song mit. Einige Zehntausende füllen die größte Straße der venezolanischen Hauptstadt. Aber anders als bei früheren Wahlkampfabschlüssen stehen die Menschen auf der zwei Kilometer langen Schlagader nicht dicht gedrängt, als Präsident Nicolás Maduro die Bühne betritt. Selbst die zu Tausenden verpflichteten Mitarbeiter von Staatsbetrieben und Regierungsstellen aus ganz Venezuela füllen die Lücken nicht.
„Die Menschen haben jetzt andere Sorgen“, sagt Scarlett Madrid. „Sie müssen sich um was zu essen kümmern“, fügt die Frau aus dem Stadtteil El Valle in Caracas hinzu. Denn auch für die überzeugtesten Anhänger der regierenden Linksnationalisten in Venezuela gilt das Brecht-Motto: erst kommt das Fressen, dann die Moral. Frau Madrid, die als Näherin arbeitet, ist dennoch gekommen. „Ich bin immer hier. Maduro ist mein Präsident, er ist der Erbe von Hugo Chávez. Daher unterstütze ich ihn!“
Dass die Zeiten schwer sind, gibt sie zu: Hyperinflation und Versorgungskrise. „Chávez hat uns damals gesagt, dass es hart werden wird. Da müssen wir jetzt durch“, weiß Madrid. „Aber uns geht es noch immer besser als früher. Heute haben wir Armen was zu sagen, werden gehört und müssen uns vor den Reichen nicht mehr kuschen“. Damit das so bleibt, wird die 45-Jährige heute schon um vier Uhr aufstehen, um als erste wählen zu gehen und dann als Wahlkampfhelferin zu arbeiten. Eine Abwahl des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nach fast 20 Jahren will sie sich nicht vorstellen.
Ein Zweikampf um die Macht
Die Umfrageexperten sehen bei dieser umstrittenen und vorgezogenen Wahl keinen klaren Trend. Mal führt Maduro, mal sein größter Herausforderer Henri Falcón, ein früherer Chavist, der vor einigen Jahren die Seiten wechselte.
Falcón und der evangelikale Prediger Javier Bertucci wollen die Chavisten von der Macht verdrängen. Seit 1999 regieren die Linksnationalisten in dem südamerikanischen Ölstaat – und vor allem Maduro und seine Regierung haben das Land in den Kollaps gewirtschaftet. Hyperinflation, De-Industrialisierung, Nahrungsmittel- und Medizinnot, Wasserknappheit, steigende Kriminalität, hungernde Bevölkerung. Dazu die Verfolgung Andersdenkender und Ausschaltung der Opposition. „Venezuela ist ein gescheiterter Staat“, sagt nüchtern der Ökonom Jean-Paul Leidenz. „Der Staat kann die Grundbedürfnisse und öffentlichen Dienstleistungen nicht mehr sicherstellen“. Das Ende sei nah, orakelt Leidenz von der Wirtschaftsberatung „Ecoanalítica“. Aber es sei nicht klar, ob das Schiff sinkt oder vorher doch der Kapitän von Bord gekippt wird.
Heute hätten die Venezolaner dazu die Chance. Aber der Wahlforscher Luis Vicente León versichert, die Abstimmung sei keine Wahl im demokratischen Sinne, daher sei ein Wahlsieg des Amtsinhabers sehr wahrscheinlich. Die Abstimmung sei weder frei noch gleich. Die größten Oppositionsparteien seien von der Wahl ausgeschlossen und die bekanntesten Kandidaten wie Leopoldo López und Henrique Capriles dürften nicht antreten. „Zudem sind Wahlrat und Gerichte fest in Hand der Regierung“, sagt der Chef des Umfrageinstituts „Datanálisis“.
Aufruf zum Wahlboykott
Das größte, aber völlig zerstrittene Oppositionsbündnis MUD hat zudem zum Boykott der Wahl aufgerufen und wendet sich nun gegen das ehemalige Führungsmitglied Falcón, weil er aus dem Boykottlager ausgeschert ist und auf eigene Faust antritt und so angeblich „eine illegitime Wahl legitimiert“. Mindestens 50 Prozent der Oppositionsanhänger wollen nicht zur Wahl gehen.
Während also die Opposition zerstritten ist und zum Boykott aufruft und Falcón und Bertucci sich gegenseitig Stimmen wegnehmen, schließt der Chavismus seine Reihen und pampert seine Wähler mit dickeren Rationen in den staatlichen Nahrungsmittelpaketen sowie der Vergabe des sogenannten „Carnet de la Patria“ (Heimatausweis). Mit dieser Bankkarte kommt man bei Wohlverhalten in den Genuss von allerlei Sonderzahlungen.
Maduro habe eine Stammwählerschaft von 25 Prozent, sagt Wahlforscher León, die entweder aus alter Verbundenheit zu Hugo Chávez oder durch die „soziale Kontrolle“ an den Staatschef gebunden sei. „In der Hyperinflation sind die Nahrungsmittelpakete lebenswichtig“, betont León.
Tatsächlich muss sich Maduro seiner Sache tatsächlich sehr sicher sein, wenn er sich nur ein Jahr nach den größten Protesten gegen ihn vorgezogen wieder zur Wahl stellt. Drei Monate protestierten im Frühjahr 2017 Junge, Alte, Mittelklasse, Ober- und auch Unterschicht gegen den Mann mit dem Schnauzer und dem messianischen Eifer und wollten ihn mit massiven Demonstrationen stürzen. Doch Maduro brachte Polizei und Panzer gegen die Protestierer auf die Straße. Mehr als einhundert Menschen starben. Die Proteste kosteten nicht nur Leben, sondern auch Kraft, Mut und viel Zeit, waren aber am Ende vergeblich.
Kampf gegen den Hunger
Die Gesellschaft sei „deprimiert, anästhesiert und schicksalsergeben“, sagen Beobachter. Von der Wut des vergangenen Jahres scheinen in Caracas tatsächlich nur die Wandmalereien geblieben zu sein: „Maduro Mörder“ oder „Hunger“ prangt an vielen Stellen der Stadt. Zudem haben die Menschen vollauf damit zu tun, das tägliche Überleben in der Hyperinflation zu sichern. So beschäftigt die Venezolaner in erster Linie die Frage, wie sie sich und ihre Familien satt bekommen, wenn man mit dem Mindestlohn kaum noch einen Karton Einer kaufen kann. Um 20 Prozent steigen derzeit die Preise pro Woche in Venezuela. Ende des Jahres wird die Inflation lauf IWF bei 14.000 Prozent liegen. Die Wirtschaft wird um 15 Prozent geschrumpft sein.
Nach der jüngsten Erhöhung liegt der Mindestlohn inklusive Lebensmittelgutscheinen bei gut 2,5 Millionen Bolívares, auf dem Schwarzmarkt bekommt man dafür gerade einmal noch drei Dollar. Aber da es nicht genügend Bargeld gibt, lebt ganz Venezuela nur noch mit Debit-Karten. Selbst der Hotdog-Verkäufer auf der Straße hat jetzt Kartenlesegeräte. Aber da zum Beispiel die Nahverkehrsbusse keine haben, gehen viele Menschen in Caracas gar nicht zur Arbeit, weil sie das Bus-Ticket nicht bezahlen können. In der Folge kollabiert die U-Bahn der venezolanischen Hauptstadt. Immerhin ist inzwischen die Fahrt kostenlos, weil das Drucken der Fahrkarten teurer ist als diese selbst. Im Landesinneren sieht es schlimmer aus. Da die Zahlungsverkehrssysteme dort kaum verbreitet sind und es deutlich weniger Internet als in der Hauptstadt gibt, kommt die Tauschwirtschaft wieder zum Zuge.
Für Scarlett Madrid ist das alles kein Grund, ihrer Revolution untreu zu werden. Mit Maduro durch dick und dünn, durch Hunger und durch satte Tage. Schließlich hat Chávez den früheren Busfahrer zu seinem Nachfolger bestimmt. Sollte er die Wahl am Sonntag gewinnen, werde er ein großes „Abkommen zur wirtschaftlichen Erholung“ starten, versprach er auf der Abschlussveranstaltung. „Koste es, was es wolle, ich werde mein Leben dafür geben und eine Wirtschaftsrevolution machen. Sie wird die Welt erschüttern“.