Seit zwei Monaten rätseln Ermittler, wer den russischen Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftet hat. Nun hat Tschechiens Präsident Milos Zeman zugegeben, dass auch in seinem Land noch vor wenigen Monaten mit einer Nowitschok-Variante experimentiert wurde. Zeman war daraufhin im eigenen Land kritisiert worden. Moskau sieht sich dagegen bestätigt.
"Die Menge des hergestellten Gifts war angeblich klein, und es wurde nach den Versuchen vernichtet", sagte Zeman am Donnerstagabend im Fernsehsender Barrandov. Nowitschok ist nicht gleich Nowitschok; die Giftgruppe gibt es in Varianten. In Tschechien sei an der Substanz A-230 geforscht worden, beim Anschlag auf die Skripals solle A-234 verwendet worden sein, betonte Zeman.
Das Experiment in Tschechien habe im vergangenen November in einem militärischen Forschungsinstitut in Brünn (Brno) stattgefunden. "Wir wissen wo, wir wissen wann, also wäre es Heuchelei, so zu tun, als ob nichts geschehen wäre", sagte der als russlandfreundlich geltende Staatschef. Er berief sich auf einen Bericht des Militärgeheimdienstes. Nach Einschätzung von Fachleuten sind nur wenige Labors in der Welt in der Lage, mit solchen Nervenkampfstoffen zu arbeiten.
Verteidigungsministerium bestätigt Aussagen
Das Verteidigungsministerium in Prag bestätigte später Zemans Aussagen. "Der Stoff wird in einem spezialisierten Labor unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und in einem Ausmaß von maximal ein paar Mikrogramm synthetisiert", erklärte das Ministerium am Freitag in einer Aussendung. Die Identifizierung dieser Stoffe und der Schutz vor ihnen seien Bestandteil der Ausbildung der tschechischen ABC-Einheit. Nach den Tests seien die Stoffe immer sofort liquidiert worden. Sie würden nie deponiert, sodass die Wahrscheinlichkeit eines Lecks gleich Null sei, versicherte das Ministerium.
Verteidigungsministerin Karla Slechtova von der Protestbewegung ANO, die früher jegliche Präsenz des Nervengases in Tschechien strikt bestritten hatte, wollte sich zunächst nicht äußern, sie könne den Bericht des Geheimdienstes nicht kommentieren, weil es sich um vertrauliche Informationen handle, sagte sie. Gleichzeitig bestätigte sie indirekt Zemans Worte, indem sie sagte, Tschechien befasse sich ausschließlich mit dem Schutz vor diesen Giftstoffen, "und falls diese getestet werden, dann werden sie sofort vernichtet". "Jetzt gibt es kein Nowitschok auf dem Gebiet Tschechiens", betonte sie.
Vor allem rechtsliberale Politiker warfen dem Staatschef vor, mit seinen Aussagen dem Kreml zu dienen. So meinte etwa der Chef der Bürgermeisterpartei (STAN), Petr Gazdik: "Wir können Milos Zeman als aktiven Agenten des Kreml betrachten." Laut dem Chef der konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS), Petr Fiala, "dient Zeman weder den Interessen der Tschechischen Republik noch der Sicherheit des Landes". ODS-Vizechef Martin Kupka fügte hinzu, im Kreml müsse man "auf unseren Präsidenten wirklich stolz sein". Der Klubobmann der liberalkonservativen TOP 09, Miroslav Kalousek, sagte, die Russen hätten Zeman "für ihre Lügenpropaganda und wir haben ihn für eine permanente Schande". Und der christdemokratische EU-Abgeordnete Tomas Zdechovsky meinte, er "habe das Gefühl, dass Nowitschok an Zeman getestet worden sei".
Skripal und seine Tochter Julia waren am 4. März bewusstlos auf einer Parkbank im englischen Salisbury entdeckt worden. Die Ärzte konnten ihr Leben retten. Großbritannien macht Russland für den Anschlag verantwortlich. Der Fall löste eine schwere diplomatische Krise aus.
"Russen haben alle Grenzen überschritten"
Das Außenministerium in Moskau wies die Vorwürfe aus London zurück: Als Herkunftsländer des verwendeten Kampfstoffs kämen Tschechien, Großbritannien, die Slowakei und Schweden infrage, so der Kreml. Die Regierung in Prag verneinte das bisher. "Die Russen haben alle Grenzen überschritten", sagte etwa Ministerpräsident Andrej Babis von der populistischen ANO-Partei.
Der deutsche Chemiewaffenexperte Ralf Trapp ist überzeugt, dass in mehreren Ländern mit Nowitschok experimentiert wurde. "Ganz bestimmt in den USA, sicher auch in einigen europäischen Ländern und vielleicht auch in Staaten in Asien", sagte Trapp am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. Der Experte arbeitet auch als unabhängiger Berater für die Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW). Er wolle sich aber nicht an Spekulationen beteiligen.
Die OPCW hatte einen Bericht zu dem in Salisbury verwendeten Gift erstellt, aber keine Details veröffentlicht. OPCW-Chef Ahmet Üzümcü sagte der "New York Times", dass zwischen 50 und 100 Gramm Nowitschok in flüssiger Form beim Anschlag verwendet worden seien - und damit viel mehr, als für Forschungszwecke üblich sei. Wahrscheinlich sei die Menge zum Einsatz als Waffe produziert worden. In Russland wurden die Angaben stark in Zweifel gezogen. Damit hätte man ganz Salisbury töten können, hieß es aus dem russischen Außenministerium.
Türklinke beschmiert
Das Gift ist britischen Ermittlern zufolge wohl an eine Türklinke am Haus Skripals geschmiert worden. Julia Skripal ist inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen und an einen unbekannten Ort gebracht worden, ohne dass russische Diplomaten sie sprechen durften. Ihr Vater ist außer Lebensgefahr, wird aber nach offiziellen Angaben immer noch in der Klinik behandelt. Wann er entlassen wird, wollte ein Sprecher dort am Freitag auf Anfrage nicht sagen. Experte Trapp schließt chronische Schäden und Spätfolgen durch das Gift nicht aus.
Die Vorwürfe Großbritanniens gegen Russland seien unhaltbar, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. "Die zahlreichen Täuschungen der Regierung von (Premierministerin) Theresa May werden immer klarer", kommentierte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. So habe London behauptet, Nowitschok sei nur in Russland hergestellt worden. Zemans Aussage widerlege dies. Zeman liegt bisweilen mit der Regierung von Babis über Kreuz.
Tschechien betreibt im südmährischen Vyskov (Wischau) ein NATO-Kompetenzzentrum zur Abwehr von ABC-Waffen, also atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen. Der frühere Warschauer-Pakt-Staat ist seit 1999 Mitglied des transatlantischen Bündnisses. Die internationale Chemiewaffenkonvention verbietet unter anderem die Entwicklung und den Besitz von Chemiewaffen, schließt aber die Forschung zu Abwehrzwecken nicht aus - solange bestimmte Bedingungen und Meldepflichten erfüllt sind.