Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel strebt nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche vorgezogene Neuwahlen an. Dies wäre "der bessere Weg" als eine "Minderheitenregierung", sagte Merkel am Montagabend in der ARD-Sendung "Brennpunkt". Sie wolle dann wieder als Kanzlerkandidatin antreten.
Sie sei bereit, "weiter Verantwortung zu übernehmen", sagte die CDU-Chefin. Sie verwies darauf, dass sie im Wahlkampf zugesichert habe, das Amt der Bundeskanzlerin für volle vier Jahre zu übernehmen. Das sei gerade einmal zwei Monate her und "es wäre sehr komisch", wenn sie den Wählern nun allein aufgrund der FDP-Entscheidung sage: "Das gilt nicht mehr".
Rücktritt "stand nie im Raum"
In der ZDF-Sendung "Was nun, Frau Merkel?" erklärte die Kanzlerin, sie habe nach dem Abbruch der Gespräche nicht an Rücktritt gedacht. "Nein, das stand nicht im Raum. Ich glaube, Deutschland braucht nun Stabilität. "Auf die Frage, ob sie persönlich in den Gesprächen mit CSU, FDP und Grünen Fehler gemacht habe, antwortete sie in der ARD: "Nein". Merkel erklärte weiter: "Ich habe das getan, was ich konnte, und wie gesagt, wir waren auch wirklich vorangekommen."
CSU-Chef Horst Seehofer hat die Ankündigung der deutschen Kanzlerin begrüßt. Merkel habe in den vergangenen Wochen die Positionen der CSU zuverlässig unterstützt, auch in der Zuwanderungsfrage, sagte Seehofer am Montagabend der Deutschen Presse-Agentur in München. "Daher hat sie meine und unsere Unterstützung."
45 Prozent der Deutschen für Neuwahlen
Knapp die Hälfte der Deutschen befürwortet nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen Neuwahlen. Nach einer Forsa-Umfrage vom Montag für die Sender RTL und n-tv sprechen sich 45 Prozent der Wahlberechtigten für einen erneuten Urnengang aus. 27 Prozent befürworten eine Neuauflage der Großen Koalition, 24 Prozent halten eine Minderheitsregierung für die beste Lösung.
Für eine erneute Große Koalition sind demnach am häufigsten Anhänger der CDU (41 Prozent), von den SPD-Anhängern 24 Prozent; für Neuwahlen sind am häufigsten Anhänger der AfD (71 Prozent), der FDP (56 Prozent) und der Linken (53 Prozent), für eine Minderheitsregierung am häufigsten Anhänger der Grünen (41 Prozent).
Mehr als die Hälfte der Deutschen (53 Prozent) hat der Umfrage zufolge kein Verständnis für die Entscheidung der FDP, die Sondierungsgespräche zur Bildung einer Jamaika-Koalition abzubrechen. Verständnis haben 43 Prozent. Rückendeckung für den Abbruch der Verhandlungen erhält die FDP in der Umfrage besonders von den Anhängern der AfD (80 Prozent) und von den eigenen Anhängern (64 Prozent).
Käme es jetzt zu Neuwahlen, würden sich die Deutschen kaum anders entscheiden als bei der Bundestagswahl im September. Die größten Zuwächse würden die Grünen erzielen. CDU und CSU kämen auf 31 Prozent, die SPD auf 21 Prozent, die Grünen und die AfD auf jeweils auf zwölf Prozent, die FDP auf zehn und die Linke auf neun Prozent.
Präsident fordert Gesprächsbereitschaft
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Parteien an ihre Verantwortung zur Regierungsbildung in Deutschland erinnert. Diese könne nicht einfach an die Wähler zurückgegeben werden, sagte Steinmeier am Montag Nachmittag in Berlin. Er erwarte deshalb Gesprächsbereitschaft zur Regierungsbildung, so der deutsche Präsident.
FDP-Chef Christian Lindner verteidigte indes den Abbruch der Gespräche. "Wir haben viele Kompromisse gemacht. Es gibt aber auch einen Kern von Grundüberzeugungen", sagt er. Man wisse um die schwierige Lage Deutschlands nun. Wenn es zu Neuwahlen komme, habe die SPD die Schuld, da sie sich Koalitionsgesprächen verweigere.
Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz hatte am Montagnachmittag erneut klar gemacht, dass seine Partei für die Neuauflage der Großen Koalition nicht zur Verfügung stehe. Die Wähler sollten die Lage nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen neu bewerten können, sagte Schulz und fügte hinzu: "Wir scheuen Neuwahlen nicht." Damit bliebe für die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel nur noch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Oder eben ein zweiter Anlauf der Jamaika-Sondierer nach einer Abkühlphase. Oder Neuwahlen.
Flüchtlingspolitik als Streitpunkt
Einer der Kernstreitpunkte in den Sondierungen war die Flüchtlingspolitik gewesen. Die Union beharrte auf einer Begrenzung der Zuwanderung und wollten einen Richtwert einer maximalen Nettozuwanderung von 200.000 Personen aus humanitären Gründen pro Jahr. Die Grünen pochten dagegen darauf, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus nach März 2018 freigegeben wird. Dies lehnten CDU, CSU und FDP ab.
Diese Szenarien sind nun denkbar
GROSSE KOALITION: Eine schwarz-rote Koalition ist rechnerisch möglich. Theoretisch könnten CDU, CSU und SPD also Verhandlungen aufnehmen. Die SPD ist aber nicht bereit für eine Neuauflage der "GroKo". Parteichef Martin Schulz sieht die SPD nur in der Opposition.
FAZIT: NAHEZU AUSGESCHLOSSEN.
MINDERHEITSREGIERUNG: Einer möglichen Koalition aus CDU/CSU und FDP fehlen 29 Sitze zur Mehrheit im Bundestag. Schwarz-Gelb müsste also bei Abstimmungen auf Stimmen aus den anderen Fraktionen hoffen. Das Gleiche gilt für Schwarz-Grün; hier fehlen 42 Sitze zur Mehrheit. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist jedoch keine Freundin wechselnder, unsicherer Mehrheiten. Eine Minderheitsregierung hat es nach einer Bundestagswahl auch noch nie gegeben, eben weil sie so riskant ist.
FAZIT: UNWAHRSCHEINLICH.
NEUWAHLEN: Der Weg zu einer Neuwahl ist verschlungen - weil es die Verfassung so will. Vor eine Neuwahl unter den aktuellen Umständen hat das Grundgesetz nämlich die Kanzlerwahl gestellt.
Der Bundespräsident muss zunächst jemanden für das Amt des Bundeskanzlers vorschlagen. Diese Person wird Kanzler(-in), wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages für sie stimmen ("Kanzlermehrheit"). Bisher wurden alle Kanzler der Bundesrepublik in diesem ersten Wahlgang gewählt.
Findet der Vorschlag des Bundespräsidenten keine Mehrheit, beginnt die zweite Wahlphase. Der Bundestag hat jetzt zwei Wochen Zeit, sich mit absoluter Mehrheit auf einen Kanzler zu einigen. Die Zahl der Wahlgänge ist nicht begrenzt, ebenso wenig die Zahl der Kandidaten. Dem Bundestag steht es also frei, die zwei Wochen ungenutzt verstreichen lassen - oder etwa fünfzehn Mal zu versuchen, einen Kandidaten zu wählen.
Kommt auch in diesen zwei Wochen keine Kanzlermehrheit zustande, beginnt die dritte Wahlphase. In diesem letzten Wahlgang reicht schon die relative Mehrheit. Gewählt ist also, wer von allen Kandidaten die meisten Stimmen gewinnt.
Nun muss wieder der Bundespräsident handeln. Wird jemand nur mit relativer Mehrheit gewählt, kann der Bundespräsident sie zur Kanzlerin oder ihn zum Kanzler einer Minderheitsregierung ernennen - er kann aber auch den Bundestag auflösen. Innerhalb von 60 Tagen muss es dann Neuwahlen geben.
FAZIT: WAHRSCHEINLICH.