Am Nachmittag hat es in Singapur zu regnen aufgehört. Das ist ein Glücksfall für alle, die später auf der Terrasse des „Level 33“ hinunter auf den Hafen blicken. Klar und dunstfrei ragt das Monte Carlo Asiens in den Nachthimmel. Martin Brehm hat hier, im 33. Stock eines Wolkenkratzers im Bankenviertel, die höchste Brauerei der Welt hingezaubert. Die importierte Anlage mit den glitzernden Kupferkesseln hat man mit einem Spezialkran über die Außenwand 160 Meter in die Höhe gehievt, da hätten die Behörden daheim 1000 Gründe gefunden, die Genehmigung zu verweigern, unkt der Wiener. In Singapur sei man entzückt gewesen. Der städtische Zoll, der ein eigenes Magazin herausbringt, hob den Österreicher auf die Titelseite und half bei der Einfuhr.
Solche Geschichten begegnen einem in der Boomtown, vor 50 Jahren noch ein morbider britischer Hafen, auf Schritt und Tritt. Auch Christian Kleindienst, ein junger Halbleiterspezialist aus Villach, gab im Bus der Wirtschaftsdelegation, unterwegs auf ihrer Zukunftsreise durch Asien, seine Story zum Besten. Der Unternehmer wollte die Firma, die Anlagen für Mikrochips herstellt, eigentlich in der Draustadt gründen. Als die Bank den damals 27-Jährigen mit einem „Überziehungsrahmen von 1000 Euro“ konfrontierte, suchte er das Weite. In Singapur fand der Kärntner einen Partner und Investor, ein universitäres Forschungslabor und eine Stadt, die Neugründer in den ersten drei Jahren steuerfrei stellt.
Von einem Vollkaskostaat heimischer Prägung sei der Vorzeige-Stadtstaat dennoch weit entfernt, so Kleindienst. Die Eigenverantwortung zähle so viel wie die öffentliche Hand. Das Gesundheitssystem garantiere durch moderate Beitragssätze nur eine Grundversorgung. Stehe eine aufwendige Operation an, zahle auch der Einzelne oder die Familie, notfalls mit Billigkredit. Nur im lebensbedrohenden Krankheitsfall trage der Staat die finanzielle Bürde zur Gänze. „Die medizinische Qualität hat Weltruf“, erzählt der Villacher, „ich würde nicht mit daheim tauschen, wo jeder gratis ins Spital spazieren kann, bis alles implodiert.“
Auch in der Bildung gehorcht keine der Elite-Hochschulen einer Freibierkultur. Es werden Tutorenbeiträge eingehoben, und wo das Geld knapp ist, kann es später mit langen Fristen zurückgezahlt werden. Das gilt auch für Auslandsstudien in Yale oder Harvard. Der Staat fördert sie und gewährt einen Vorschuss. Kann der nicht zurückgezahlt werden, darf die Politik die Heimkehrenden dazu verpflichten, drei Jahre für die Regierung zu arbeiten. Nehmen und geben, niemand empfindet die Übereinkunft als anstößig, jeder weiß: Es sind die Besten, die lehren und einen Studienplatz erhalten. „In Österreich“, sagt Christoph Leitl nach dem Besuch der Forschungslabors abends beim Bierbaron, „haben wir verstopfte Kanäle, hohe Ausfallraten, starre pragmatisierte Strukturen und viel Durchschnittlichkeit“. Er habe Angst, dass Österreich „die Welt“ verschlafe.
Anders Singapur. Beide großen Universitäten zählen zu den besten zwanzig der Welt. Die Nase vorn hat die jüngere, die technische Hochschule NTU, 1991 um 600 Millionen erbaut. Der Auftrag lautete, Weltspitze zu generieren. „Warum bitte ist das bei uns nicht möglich?“, fragt Leitl. „Am Geld kann es nicht liegen. 600 Millionen sind vier Monate Hacklerregelung.“
Chef der Elite-Uni ist ein alter Schwede, Bertil Andersson. Der ironiebegabte Biochemiker, Berater des Nobelpreiskomitees, unterschrieb an der Seite des Kammerpräsidenten einen Partnerschaftsvertrag für mehr Austausch. Es war die Beglaubigung eines fatalen Versäumnisses. Schon vor Jahren, verrät das Archiv, waren Heinz Fischer und Beatrix Karl da und setzten ihre Signatur unter einen Vorsatz, der uneingelöst blieb. Beim Streifzug durch die Labors, wo Weltfirmen Pate stehen, trifft man Studenten und Wissenschaftler aus allen Ländern, aus Österreich so gut wie niemanden. Als der Schwede die Ländergrafik herzeigt und verschmitzt zu den Gästen blickt, mag der eine oder andere Lust verspürt haben, unter die Tischplatte zu gleiten.
Alle großen Ikonen des Wissenschaftsbetriebs, von Cambridge bis Yale, sind mit Exposituren vertreten. Auch die ETH Zürich. Seit Jahren arbeitet sie mit einem hundertköpfigen Forscherteam an der Weiterentwicklung urbaner Räume. Das Interesse gilt Asien, nicht Europa. Europa war gestern. „In meinem Schweizer Heimatdorf“, erzählt der Direktor des ETH-Centers Remo Burkhard, „leben wie vor vierzig Jahren tausend Leute. Nur die Postzeiten haben sich geändert. Im gleichen Zeitraum ist ein gleich großes Dorf in Indonesien auf acht Millionen angeschwollen.“ An der elektronischen Wand visualisieren sich gerade die Datensätze der Taxis und Pendlerautos von Singapur. Aus den blinkenden Spots rechnen Computersysteme die Verkehrsströme der Zukunft hoch und ermitteln, wo durch Massierungen die Temperatur steigen wird.
Seit Kurzem hat die NTU auch eine Med-Fakultät. Dort gehören Vorlesungen der Vergangenheit an. Die Studenten erarbeiten die Lehrinhalte eigenständig mithilfe interaktiver Materialien. Im Hörsaal werden die Inhalte in Sechsergruppen erörtert. Es geht um Problemlösungskompetenz und die Bündelung von Wissen. Das Operieren, so Andersson, erledige in Hinkunft der Roboter, weil er präziser sei und nie ermüde.
Auch immer mehr Schulen stellen ihre Pädagogik um und verzichten auf frontalen Vortrag zugunsten der erwähnten Tugenden, verfeinert in Kleingruppen sogenannter Flip-Klassen. Der Unterricht dauert bis 15 Uhr, danach gibt es Fördermodule. Alle sollen unterschiedlich schnell an die vorgegebenen Standards herangeführt werden. An dieser Zielvorgabe werden auch die Lehrer gemessen, die hoch im Ansehen stehen und mehr verdienen als ein Anwalt oder Mediziner. Dieses finnische Verständnis einer haftenden Pädagogik, das kein Kind nach unten durchreicht, verschmilzt mit dem Bildungsfieber und der ausgeprägten erzieherischen Tradition asiatischer Gesellschaften, vergleichbar nur mit der jüdischer Gemeinschaften, wie Rektor Andersson anmerkt.
Die Demokratie in der Fünf-Millionen-Stadt wird autoritär gelenkt, das erleichtert Veränderung zulasten mühsamer Meinungsbildung. Politiker sind hier top ausgebildete Millionäre. Sie haben Bankhäuser geleitet oder flogen Kampfjets.
Im Gegensatz zu Japan, das sich abschließt und vergreist, lässt Singapur dosierten Zuzug in seine wissensbasierten Eco-Systeme zu. Er muss freilich den elitären Staatszielen dienen. Ohne Jobzusagen eines Arbeitgebers und den Nachweis einer höheren Ausbildung gibt es keine Aufenthaltsgenehmigung.
Für die Volksgruppen werden Quoten ausgegeben, um das Gleichgewicht zu wahren. Man nennt sie tatsächlich „Rassen“ und vermeidet das Wort Religion, weiß der Wirtschaftsdelegierte Volker Amann. Einzige Staatsreligion ist die Digitalisierung. An den Unis kann der erste selbstfahrende Rollstuhl bestaunt werden und am Palmenflughafen der voll automatisierte Terminal IV, papierlos, ohne Wartezeiten und Reinigungspersonal. Erledigt alles der selbstfahrende Staubsauger.
All das gibt es längst auch in Japan. Hier lebt man eine geradezu erotische Beziehung zu Automatisierung und vermenschlichter Technologie. Die europäische Scheu vor Robotik ist dem Land fremd. Man setzt sie ein in Pflegeheimen, Hotels, Küchen und am Arbeitsplatz. Die neue Robotergeneration ist humanoid, menschenähnlich, ihre sensorsensiblen Arme erdrücken niemanden mehr. Sogar beim morgendlichen Turnen machen die Kollegen mit den vielen Augen mit. Bald schon werden sie auf dem Acker als selbstfahrende Traktoren Furchen ziehen und Waren vor die Haustüre liefern.
Die Symbiose von Mensch und künstlicher Intelligenz ist der Leitgedanke des Projekts „Gesellschaft 5.0“, dem sich die Abe-Regierung verschrieben hat. Die Wirtschaftsdelegation horchte auf: Zukunft als etwas Geplantes; nichts, was einem widerfährt. Das klang wenig heimisch. Japans Wachstum ist dennoch hinter Österreich zurückgefallen. Der Tiger lahmt. Er hat ein Problem: Wettrennen auf das Grab zu, nennt es Asiens Economist-Chef Florian Kohlbacher im Vortrag vor österreichischen und japanischen Unternehmern. Am Menetekel Japan können die Gäste studieren, was passiert, wenn man ein Land wie ein Rexglas abdichtet und Frauen von den Jobs fernhält. Eine halbe Million Bürger verliert Japan pro Jahr. Die Geburten schwinden. 3776, haben Forscher errechnet, würde es nur noch einen einzigen Bewohner unter 15 geben.
Erschrocken von den apokalyptischen Prognosen holt die weltweit älteste Gesellschaft ihre Pensionisten zurück, öffnet Müttern die Fabrikstore und Kinderkrippen und drosselt das Schulgeld. Ob das reicht, ist ungewiss. Ein Raunen geht durch den Saal, als Kohlbacher eine Grafik zeigt, die den ganzen Ernst vor Augen führt: Erstmals werden mehr Windeln für die Alten als für die Babys gekauft.