Die EU-Staats und Regierungschefs haben sich auf eine Kürzung von Finanzhilfen mit Blick auf eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei verständigt.
Es werde zunehmend klar, "dass es eine Neuordnung der Beziehungen braucht", sagte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) Freitagfrüh nach den Gipfelberatungen in Brüssel. Alle seien sich einig gewesen, die sogenannten Vorbeitrittshilfen "in verantwortbarer Weise zu kürzen", sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Gleichzeitig sollten aber Ankara zugesagte Milliardenbeträge für die Versorgung syrischer Flüchtlinge weiter fließen. Merkel verwies darauf, dass aus ihrer Sicht "die Situation der Menschenrechte" in der Türkei "absolut unzufriedenstellend" sei. Das Land entferne sich "Schritt für Schritt von dem, was wir als rechtsstaatliche Voraussetzung begreifen". Sie habe im Kreis der EU-Spitzen auch "darüber berichtet, wie wir darunter leiden, dass deutsche Staatsbürger aus unserer Sicht ungerechtfertigterweise in der Türkei in Haft sind."
Vor diesem Hintergrund komme es auch nicht infrage, dass mit der Türkei derzeit über eine Modernisierung der Zollunion verhandelt werde, sagte Merkel weiter. Auch dies war eine der Zusagen, welche die EU im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsabkommen mit Ankara gemacht hatte.
Die Gipfelteilnehmer hätten anerkannt, dass die Türkei weiter "viel für die aus Syrien geflüchteten Menschen tut", sagte Merkel weiter. Deshalb wolle die EU auch zu ihrer Zusage stehen, weitere drei Milliarden Euro für die Versorgung der Flüchtlinge bereitzustellen. Dies sei etwa im Vergleich zu den Aufwendungen für Flüchtlinge in Deutschland "nicht zu viel Geld".
Mit Blick auf ihre Forderung aus dem deutschen Bundestagswahlkampf, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei offiziell abzubrechen, räumte Merkel ein, dass es hierfür "im Grunde keine Mehrheit" unter den EU-Staats- und Regierungschefs gebe. Ein Abbruch wäre auch Voraussetzung dafür, dass die Zahlung der Vorbeitrittshilfen ganz eingestellt werden kann. Bisher sind nur Österreich und Deutschland dafür. De facto liegen die Verhandlungen per EU-Beschluss ohnedies auf Eis.
Die EU zahlt diese Hilfen an Beitrittskandidaten, um ihnen die Anpassung an EU-Standards zu erleichtern. Für Ankara sind dabei im Zeitraum von 2014 bis 2020 4,45 Milliarden Euro vorgesehen. Ausgezahlt sind bisher gut 258 Millionen Euro.
Merkel betonte, dass es "nicht Hilfen einfach nur für die Regierung" seien, "sondern zum Teil auch für diejenigen, die sich andere Entwicklung in der Türkei vorstellen". Deshalb solle "in verantwortbarer Weise" gekürzt werden. Ein deutscher Regierungsvertreter hatte am Mittwoch darauf verwiesen, dass es nicht sinnvoll sei, Hilfen für Projekte zur Stärkung der Zivilgesellschaft zu kürzen.
Im Gespräch bleiben
Die Bundeskanzlerin sah gleichzeitig die Notwendigkeit, mit der Regierung in Ankara im Gespräch zu bleiben. Mit ihren Kollegen sei sie sich aber auch bewusst, "dass wir nicht nur über die Türkei sprechen können, sondern auch mit der Türkei sprechen müssen", sagte die Kanzlerin. Es werde nun darüber diskutiert, "in welchem Rahmen wir das weiter tun können".
Der belgische Ministerpräsident Charles Michel sagte, dass sein Land die Reduzierung der Zahlungen an die Türkei unterstützt. "Jeder weiß, dass die Verhandlungen auf Eis liegen, de facto fast tot sind", sagte er auf einer Pressekonferenz während des Gipfels. Angelaufen waren die Gespräche 2005. Allerdings sahen besonders Deutschland und Frankreich eine Mitgliedschaft wegen der Größe der Türkei und der überwiegend muslimischen Bevölkerung skeptisch. Nach dem gescheiterten Putsch dort im Vorjahr und der harten Antwort der Regierung gegen mutmaßliche Putschisten verschlechterten sich die Beziehungen schlagartig. "Wir werden zu dem Ergebnis kommen, dass die Verhandlungen im Sande verlaufen und auch nicht wiederbelebt werden können", sagte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte.
"Wir haben ganz intensiv die Frage der Beziehungen zur Türkei diskutiert. Es war eine sehr gute Diskussion", sagte Kern. Dadurch dass auch Merkel die österreichische Einschätzung zur Türkei teile, entstehe eine Dynamisierung in der Diskussion. "Es ist auch in Wahrheit fair gegenüber der Türkei."
Die Unterstützung der Türkei im Rahmen der offiziell noch immer laufenden EU-Beitrittsverhandlungen sorgt seit Monaten für Diskussionen. Grund ist vor allem die andauernde Inhaftierung von Journalisten und Menschenrechtlern in dem Land. Die EU-Kommission betonte zuletzt immer wieder, dass die Finanzhilfen solange gezahlt werden müssten, wie die Beitrittsverhandlungen liefen. Die Möglichkeit, die Gelder verstärkt in Projekte für die Demokratieentwicklung, Rechtsstaatlichkeit oder Zivilgesellschaft zu leiten, werde bereits genutzt, heißt es. Insgesamt hat die EU der Türkei für den Zeitraum 2014 bis 2020 rund 4,45 Milliarden Euro zugesagt, 368 Millionen davon sind bisher vertraglich gebunden.