In der Türkei ist man stolz darauf, dass Frauen mit der Einführung der Republik Rechte bekamen, die in Europa im Jahr 1923 noch keine Selbstverständlichkeit waren. Doch 94 Jahre später ist das Land weit entfernt von Gleichberechtigung und noch immer sind Kinderehen immer ein dringendes Problem. Ein Gesetzesentwurf, der Muftis berechtigt, Ehen zu schließen, sorgt für heftige Debatten.

"Ich bin an meinem Hochzeitstag in diese Straße gezogen. Alle Nachbarn lachen noch heute über dieses Bild, wie ich da sitze, in dem schicken Kleid und die Beine in der Luft baumeln lasse, weil ich mit den Füßen noch nicht den Boden berühren konnte." So erzählt Sehriban, 43, vom Ende ihrer Kindheit. 13 Jahre war sie alt, als sie verheiratet wurde und in eine enge, schmutzige Seitenstraße Istanbuls kam. Kaum ein Jahr später bekam sie ihr erstes Kind. Sie kann weder lesen und schreiben, noch hat sie eine Berufsausbildung. Sie verdient zum kärglichen Einkommen ihres Mannes etwas dazu, indem sie Miesmuscheln knackt. Zwei Wannen schafft sie am Tag: Dafür gibt es gut zehn Euro und Schwielen an den Händen.

In muslimisch geprägten, streng konservativen Familien werden vor allem die Mädchen minderjährig verheiratet, denn nur so ist garantiert, dass sie ihre Jungfräulichkeit und damit auch die Ehre ihrer männlichen Verwandten, nicht vorzeitig verlieren. Schicksale wie das von Sehriban gibt es also zuhauf in der Türkei und Frauenverbände, Vereine und Frauenrechtlerinnen thematisieren die Problematik und versuchen etwas daran zu ändern. Als die Türkei noch auf Kurs nach Europa war, wurden Gesetzespakete verabschiedet, die darauf abzielten, die Situation der Frau zu verbessern und mehr Gleichberechtigung zu schaffen.

Frauenverbände entsetzt

Derzeit scheint der Trend in der Türkei allerdings in eine andere Richtung zu gehen. Diese Woche wurde ein sehr umstrittener Gesetzesentwurf trotz des Protests der Opposition von einer Unterkommission durchgewunken, der die Frauenverbände auf den Plan ruft. Statt Gleichberechtigung und Förderung scheint eine Umkehr zu eher "traditionellen" Werten und Frauenrollen staatlich gewollt zu sein: In Zukunft sollen Muftis, also Islamgelehrte, die der Religionsbehörde Diyanet unterstehen, das Recht erhalten, rechtsgültige Trauungen durchzuführen. Bereits im Jahr 2015 hatte das türkische Verfassungsgericht entschieden, dass von Imamen geschlossene Ehen rechtsgültig sind. Eigentlich müssen Ehen in der laizistischen Türkei von einem Standesbeamten geschlossen werden und erst nachträglich darf der religiöse Segen eingeholt werden.

Die Befürchtung der Kritiker ist, dass durch die anvisierte Änderung Kinderehen und sogar Polygamie legitimiert werden könnten. Immerhin haben viele muslimische Geistliche aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen weder ein Problem damit, junge Mädchen zu verheiraten, noch mehr als eine Frau pro Mann. Die staatlichen Autoritäten würden die Kontrolle an einen Personenkreis abgeben, dessen Werte und Moralvorstellungen nicht unbedingt deckungsgleich mit denen des laizistischen Staates sind.

"Wenn dieser Gesetzesentwurf Gesetzeskraft bekommt, werden in unserer Gesellschaft Kinderehen legal und gesetzmäßig", befürchtet die Juristin Müjde Tozbey Erdem und fügt hinzu: "Das bedeutet, dass in diesem Fall junge Mädchen ohne staatliche Kontrolle durch die religiöse Trauung verkauft werden und Missbrauch durch die Hand des Staates erfahren." Des Weiteren sollen, wenn der Gesetzesentwurf sich weiterhin in den Instanzen behaupten kann, Geburten auch ohne offiziellen Geburtsschein eingetragen werden können, basierend lediglich auf der mündlichen Aussage der Eltern. Konkret bedeutet das, dass Hausgeburten vereinfacht werden, die wiederum sind ebenfalls bei minderjährigen Müttern verbreitet: nach noch geltendem Recht sind gelten die Väter von Kindern, deren Mütter bei der Geburt minderjährig sind, nämlich als Vergewaltiger und werden mit Gefängnis bestraft. Immer wieder berichten Medien, dass die frisch gebackenen stolzen Väter noch im Krankenhaus verhaftet werden.

Vergewaltigung straffrei, wenn Täter Opfer heiratet

Im Vergangenen Jahr reichten einige Politiker der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP den Antrag im Parlament ein, diesen Tatbestand abzuschaffen. Eine Vergewaltigung sollte straffrei sein, wenn der Täter das Opfer heiratet. Was gegen jede Vernunft und Mitgefühl zu verstoßen scheint, wurde auch von Ministerpräsident Binali Yildirim und Justizminister Bekir Bozdag verteidigt: "Es geht darum: Es gibt Leute, die nicht das passende Alter haben, die früh heiraten. Die kennen die Gesetze nicht. Deswegen bekommen sie ein Kind, der Vater geht ins Gefängnis und die Kinder sind mit der Mutter alleine. Wir haben festgestellt, dass es 3.000 solcher Familien gibt. Es geht dabei darum, diese Opfersituation zu beenden", so Yildirim.

Statt sich vehement dagegen zu verwenden, dass minderjährige Mädchen in die Ehe und die Mutterschaft getrieben werden, wurde von staatlicher Seite also lieber die Botschaft versendet, dass man sich den patriarchalisch geprägten Traditionen und den dadurch geschaffenen Tatsachen beugt. Seinerzeit scheiterte der Vorstoß am Widerstand großer Bevölkerungsschichten und wurde vorerst zurückgezogen. Sogar Sümeyye Erdogan, die Tochter des türkischen Präsidenten, kritisierte damals den Vorschlag.

Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei sind also quasi in Daueralarmbereitschaft. In Ankara und Istanbul fanden damals wie heute Demonstrationen statt, so auch wegen der jüngsten Gesetzesinitiative. Die Angst ist groß, dass schleichend aber beständig die Situation der Frau verschlechtert wird und durch die Hintertür die Scharia eingeführt werden könnte. Die Akademikerin und Autorin Erendiz Atatsü formuliert ihre Befürchtungen: "Die Bürgerinnen und Bürger hatten doch gar kein Problem mit der Eheschließung. Überall im Land kochen die Probleme, aber die Staatsführung beschäftigt sich mit diesem Thema! Der Grund, warum man so auf dieser Eheschließung durch die Muftis beharrt ist, kann kein anderer sein, als dass man eine weitere Stufe auf dem Übergang von der Republik Türkei zur Islamischen Republik, vielleicht auch dem Sultanat, also vom laizistischen Rechtsverständnis zum Islamischen, nehmen möchte."

Sehriban klagt nie und könnte sich kein anderes Leben vorstellen. Aber sie ist froh, dass ihre Töchter nicht nur einen Schulabschluss haben, sondern in der glitzernden modernen Welt, die nur zwei Straßen von Sehriban entfernt ist, einen Platz gefunden haben.