Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) ist besorgt wegen der festgefahrenen Brexit-Gespräche, die ein "großes Chaos" auslösen könnten. "Ich habe die große Befürchtung, dass, wenn wir nicht ordentlich und zügig voranschreiten, es die Gefahr gibt, dass ein großes Chaos entsteht, unter dem wir alle leiden werden", sagte Kurz am Mittwoch in London, wo er seinen britischen Amtskollegen Boris Johnson traf.
Kurz wurde von Johnson am frühen Abend in dessen Ministerresidenz nahe des Buckingham Palace empfangen. Der ÖVP-Chef, der sich am Vortag des Besuchs mit dem EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier abgesprochen hatte, drängte vor allem auf Bewegung Londons bei den Streitfragen finanzielle Verpflichtungen und Rechte von EU-Bürgern.
Der London-Besuch erfolgt in einer äußerst kritischen Phase der Brexit-Verhandlungen, in denen es kaum Fortschritte gegeben hat. Kommende Woche findet die letzte Verhandlungsrunde vor dem EU-Gipfel am 19. und 20. Oktober statt, bei dem eigentlich schon die zweite Phase der Austrittsgespräche gestartet werden sollte. In dieser Phase wollen London und Brüssel ihr künftiges Verhältnis klären.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte erst am Freitag gesagt, dass es wohl eines Wunders bedürfe, um einen Durchbruch bis Ende Oktober zu erreichen. Kurz sieht die Chancen noch intakt, pocht aber auf Bewegung Londons. Um den Zeitplan einzuhalten "braucht es nächste Woche (...) einen ordentlichen Vorschlag von Großbritannien", betonte der ÖVP-Chef, der nach dem Gespräch mit Johnson auch noch Brexit-Minister David Davis zu einem Abendessen treffen wollte.
Österreich hat deshalb besonderes Interesse an den Brexit-Gesprächen, weil diese unter seiner Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 abgeschlossen werden sollten. "Es ist wichtig, dass es jetzt Fortschritte gibt", forderte Kurz. Er zeigte sich besorgt, dass sich der Fahrplan bei weiteren Verzögerungen nicht mehr einhalten lassen werde. Kommen London und die EU-27 auf keinen grünen Zweig, droht ein ungeregeltes Ende der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens am 30. März 2019. "Ein harter Brexit führt zu chaotischen Zuständen, unter denen vor allem Großbritannien leiden wird", warnte der Außenminister.
Bei den Rechten der EU-Bürger in Großbritannien sei etwa noch die Frage der Familienangehörigen zu klären, erläuterte Kurz. Bei den Finanzen pochte er darauf, dass London allen eingegangenen Verpflichtungen nachkommt. Hier haben die Briten bisher nur signalisiert, dass sie die Mitgliedsbeiträge bis zum Brexit zahlen werden, nicht aber auch Verbindlichkeiten, die sich aus weiter geltenden Programmen oder etwa aus Krediten für Drittländer ergeben. Dieses Angebot sei "nicht ausreichend", weil viele britische Verpflichtungen über das Jahr 2019 hinausgehen.
"Wir sind Nettozahler. Wir haben kein Interesse daran, dass Großbritannien den Verpflichtungen nicht nachkommt und die Nettozahler mehr zahlen", sagte Kurz. Er bekräftigte in diesem Zusammenhang seine Forderung, dass der Brexit nicht zu einer Mehrbelastung der Nettozahler führen soll, sondern dass der Einnahmenausfall durch Einsparungen gedeckt werden solle.
In Anspielung auf jüngste positive Äußerungen von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zum Brexit unterstrich Kurz, dass das Votum für den EU-Austritt eine "schlechte Entscheidung für die Europäische Union, und vor allem eine schlechte Entscheidung für Großbritannien" gewesen sei. Die EU werde durch den Austritt der Briten "nicht nur kleiner, sondern geschwächt". Das Vereinigte Königreich sei nämlich nicht nur eine wichtige Volkswirtschaft und starke Militärmacht. Auch aus politischer Sicht "war es immer gut, dass die Briten mit am Tisch waren in der Europäischen Union", meine Kurz wohl mit Blick auf das britische Eintreten für Wirtschaftsliberalisierung und gegen Überregulierung.
Für Kurz ist es wohl die letzte Auslandsreise vor der Nationalratswahl am übernächsten Sonntag. Mit der Visite im austretenden Mitgliedsland schließt sich gewissermaßen ein Kreis: Seine erste Reise als Außenminister hatte Kurz im Dezember 2013 ins jüngste EU-Mitgliedsland Kroatien geführt.
Kurz und Johnson sind einander möglicherweise zum letzten Mal bilateral als Außenminister begegnet. Der Brexit-Vorkämpfer Johnson bastelt schon seit längerem an seiner politischen Karriere. Nach dem EU-Austrittsvotum war er als möglicher Premierminister gehandelt worden, das Rennen machte aber Theresa May. Seit Mays Schlappe bei der Unterhauswahl im Juni ist Johnson wieder im Spiel, doch schwor er der Regierungschefin erst beim Tory-Parteitag, der am Mittwoch endete, öffentlich die Treue. Kurz ist seinem britischen Amtskollegen auf der Karriereleiter schon einen Schritt voraus. Seit Mai ÖVP-Chef, hat er bei der Nationalratswahl Umfragen zufolge beste Chancen, nach dem Amt des Bundeskanzlers zu greifen.