Bei dem umstrittenen Referendum über die Unabhängigkeit in der spanischen Region Katalonien haben die Unabhängigkeitsbefürworter am Sonntag mit rund 90 Prozent der Stimmen gewonnen. Das teilte die katalanische Regionalregierung in der Nacht auf Montag in Barcelona mit. Zuvor hatte Kataloniens Regierungschef Carles Puigdemont bereits die Loslösung der Region von Spanien eingefordert.
2,26 Millionen Stimmzettel
Nach Angaben des Regierungssprechers Jordi Turull gaben aber nur knapp mehr als die Hälfte der 5,3 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimmen ab: Insgesamt seien 2,26 Millionen Stimmzettel gezählt worden, die Zahl der Ja-Stimmen habe bei 2,02 Millionen gelegen. 6,8 Prozent stimmten der katalanischen Zeitung "Vanguardia" zufolge gegen die Abspaltung.
Die Regionalregierung in Barcelona hatte das Referendum trotz einem gerichtlichen Verbot und gegen den Willen der Zentralregierung in Madrid durchgezogen. Die Madrid unterstehende Polizei war mit einem Großaufgebot gegen das Referendum vorgegangen. Polizisten schlossen Wahllokale, beschlagnahmten Abstimmungsunterlagen und hinderten Menschen mitunter mit Schlagstöcken und Gummigeschoßen an der Stimmabgabe. Nach amtlichen Angaben wurden 844 Menschen verletzt, darunter einige schwer.
"Nettozahler in der EU"
Der Gesandte der katalanischen Regionalregierung in Wien, Adam Casals, übte im Ö1-Morgenjournal heftige Kritik: Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy sei verantwortlich für die "extreme paramilitärische Polizeigewalt". Zähle man die Stimmbürger, die behindert worden seien, sowie die beschlagnahmten Stimmen dazu, dann habe die Wahlbeteiligung 57 Prozent betragen. Das Votum sei daher gültig. Katalonien wolle künftig "ein Nettozahler ind er EU" sein, sagte Casals.
Ein anderer Sprecher der katalanischen Regionalregierung hatte schon zuvor von "Unterdrückung durch den spanischen Staat" und einer "Schande Europas" gesprochen. Katalonien kündigte juristische Schritte gegen die Zentralregierung in Madrid an. Diese werde sich vor internationalen Gerichten wegen der Gewalt verantworten müssen.
"Wir haben das Recht gewonnen, einen unabhängigen Staat zu haben", erklärte Puigdemont am Sonntagabend in Barcelona, noch vor der Bekanntgabe der Resultate. Nach einem vom katalanischen Parlament verabschiedeten "Abspaltungsgesetz" soll die Unabhängigkeit bei einem Sieg des "Ja"-Lagers innerhalb von 48 Stunden ausgerufen werden.
Gemeinsam und friedlich
"Wir werden diesen Weg gemeinsam und friedlich beschreiten", sagte Puigdemont. Auf dem Platz Placa de Catalunya im Zentrum Barcelonas brachen Zehntausende von Menschen bei diesen Worten in Jubel aus. Sie sangen auch die katalanische Nationalhymne "Els Segadors".
Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy verteidigte das Vorgehen der Polizei am Abend in einer Fernsehansprache als Abwehr eines Angriffs auf den Rechtsstaat. Die Abstimmung bezeichnete Rajoy als Inszenierung, welcher er jede Gültigkeit absprach. Es habe kein Unabhängigkeitsreferendum gegeben, sagte der spanische Regierungschef. Er hoffe, dass die katalanische Führung den Weg verlassen, der nirgends hinführe.
Die katalanische Regionalregierung habe "Grundrechte verletzt" und gegen die Legalität und das demokratische Zusammenleben verstoßen, sagte Rajoy in Madrid. Die Katalanen seien dazu verleitet worden, an einer gesetzeswidrigen Abstimmung teilzunehmen. Der konservative Politiker gab der Regionalregierung in Barcelona die Schuld an den Unruhen. Die Verantwortlichen seien die, "die das Gesetz gebrochen haben". "Wir haben nur unsere Pflicht erfüllt und das Gesetz befolgt."
Rajoy kündigte an, ein Treffen aller politischen Parteien ansetzen, um gemeinsam über die Zukunft nachzudenken. Er selbst werde sich keiner Gelegenheit zum Dialog verschließen, aber man müsse sich im Rahmen des Gesetzes bewegen.
Die stärkste Oppositionskraft in Madrid, die sozialistische Partei (PSOE), sprach von "Schande und Traurigkeit". Die Sorge um die Gewalt in einem der wichtigsten Länder der EU erreichte auch andere Länder Europas. "Die Eskalation in Spanien ist besorgniserregend", schrieb der SPD-Chef und langjährige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Madrid und Barcelona müssten "sofort deeskalieren und den Dialog suchen". Der belgische Premierminister Charles Michel erklärte: "Gewalt kann nie eine Antwort sein." Der Ruf nach einer Vermittlung der EU wurde lauter. Puigdemont selbst forderte die EU auf, nicht mehr wegzuschauen, sondern einzugreifen.
In Österreich meldeten sich am Sonntag Grüne und FPÖ zu Wort. Die Grüne Spitzenkandidatin bei der Nationalratswahl, Ulrike Lunacek, ließ wissen: "So wie alle Demokraten in Europa bin ich von der gewalttätigen Zuspitzung der Situation in Katalonien auf das Tiefste schockiert". Lunacek verurteilte den Einsatz von Gummigeschoßen gegen Demonstranten auf das Schärfste. Harald Vilimsky, freiheitlicher Delegationsleiter im Europaparlament und FPÖ-Generalsekretär, erklärte, angesichts der Gewalteskalation seien "jetzt die EU-Spitzen gefordert", die Spanische Zentralregierung in Madrid zur Ordnung und Mäßigung zu rufen. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hatte am Samstag in der Ö1-Interviewreihe "Im Journal zu Gast" erklärt, er beobachte die Entwicklungen mit "Bauchweh und Sorge".