Die EU-Regierungen wollen bei der verstärkten Integration in Finanz-, Verteidigungs- und Asylpolitik in der Union Tempo machen. EU-Ratspräsident Donald Tusk wurde bei dem informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs in Tallinn beauftragt, innerhalb von zwei Wochen Vorschläge über das weitere Verfahren vorzulegen.
Ziel sei es, dass bereits der EU-Gipfel im Oktober Beratungen darüber aufnehmen könne, hieß es am Freitag in mehreren Delegationen. "Wir sind alle überzeugt, dass Europa schneller und weiter vorangehen muss", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der am Dienstag weitreichende Reformvorschläge vorgelegt hatte. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte dies am Donnerstagabend ausdrücklich begrüßt, allerdings darauf verwiesen, dass über die "Details" noch diskutiert werden müsse. Deutschland werde auch noch eigene Vorschläge etwa zur Reform der Eurozone vorlegen.
Merkel: "Europa darf nicht stehenbleiben"
Auf dem informellen Gipfel am Freitag geht es um die Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung in der Union. Die Beratungen wurden aber von der Debatte überlagert, wie die EU-27 sich nach dem britischen Austritt weiterentwickeln sollen. Sowohl Macron als auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker haben dazu Vorschläge vorgelegt, die Merkel beide ausdrücklich "als wichtige Bausteine" auf dem Weg zur Weiterentwicklung der EU und der Eurozone begrüßte. "Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa nicht einfach stehenbleiben darf", hatte Merkel erklärt. Dies betreffe neben der Eurozone auch die Verteidigungs- und Asylpolitik. Nach Teilnehmerangaben sagte sie den 27 EU-Partnern zu, dass die Koalitionsverhandlungen in Berlin die europapolitischen Debatten nicht verzögerten.
Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) will Österreich in der von Frankreich angeführten Vorreitergruppe für die Reform der EU sehen. Diese Gruppe könnte schon beim EU-Gipfel im Dezember ein gemeinsames Papier vorlegen, sagte Kern am Freitag in Tallinn. Er forderte eine "Klärung" der österreichischen Position und warf der ÖVP indirekt vor, weiter Steuer- und Sozialdumping in Kauf nehmen zu wollen.
Macron erhielt für seine Vorschläge auch Lob aus der Europäischen Zentralbank. EZB-Chefvolkswirt Peter Praet sagte der Zeitung "Les Echos", Macrons Vorstoß sei ermutigend und erfreulich. "Das ist nicht mehr eine Politik der kleinen Schritte. Diesmal ist die Messlatte sehr hoch angelegt worden." Die Reformen müssten umgesetzt werden und Rückhalt in der Bevölkerung finden.
Auch britische Premierministerin May war dabei
Tusk sprach in Tallinn in Anspielung auf den europäischen Musikwettbewerb von einem "Euro Vision Contest", der nun begonnen habe. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte warnte davor, in der Euro-Debatte "die letzten Fragen" wie die eines EU-Finanzministers als erstes zu diskutieren. Zunächst müsse man dessen Tätigkeitsfeld klären. Ähnlich hatte sich Merkel geäußert. Die deutsche Kanzlerin traf sich in Tallinn unter anderem zu bilateralen Gesprächen mit Macron, Rutte, dem italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni und der britischen Premierministerin Theresa May.
May nahm nicht nur an dem informellen Abendessen am Donnerstagabend teil, sondern blieb auch zu den Beratungen über eine stärkere Zusammenarbeit der künftigen EU-27 im Bereich der Digitalisierung am Freitag. Dort zeichnete sich ein Streit zwischen den großen Euro-Ländern Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien und kleineren Partner wie Irland über die Besteuerung von IT-Firmen ab. "Wenn wir mehr Innovation haben wollen, ist die Lösung nicht 'mehr Steuer und mehr Regulierung'", warnte der irische Ministerpräsident Leo Varadkar. Die vier großen Euro-Staaten hatten zuvor ein gemeinsames Papier vorgelegt, in dem sie europaweite Standards für die Besteuerung und Regulierung fordern.