Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) will Österreich in der von Frankreich angeführten Vorreitergruppe für die Reform der EU sehen. Diese Gruppe könnte schon beim EU-Gipfel im Dezember ein gemeinsames Papier vorlegen, sagte Kern am Freitag in Tallinn. Er forderte eine "Klärung" der österreichischen Position und warf der ÖVP indirekt vor, weiter Steuer- und Sozialdumping in Kauf nehmen zu wollen.

"Es wird nach der Wahl auch eine österreichische Klärung brauchen", sagte Kern im Vorfeld des EU-Gipfels mit Blick auf die "sehr unterschiedlichen Konzeptionen" der österreichischen Parteien in der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron angestoßenen Reformdebatte. Die Bandbreite reiche von den Neos bis zur FPÖ und ÖVP, wobei die Partei von Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) "fast am defensivsten Rand bei diesen Geschichten" sei.

"Wir wollen kein Nachtwächter-Europa"

"Wir wollen kein Nachtwächter-Europa, das sich nur auf Sicherheit und das Zusperren der Grenzen beschränkt", sagte Kern in Anspielung auf die Kritik von Kurz an den wirtschafts- und sozialpolitischen Plänen Macrons. Hier gelte es, die Potenziale der europäischen Zusammenarbeit zu nutzen, betonte der SPÖ-Chef. Denn wenn man weiter auf nationale Lösungen setze, bedeute dies: "Wir werden weiter zuschauen, wie unsere Steuerbasis erodiert, wir werden weiter zuschauen wie unsere Sozialstandards erodieren."

Kern sprach sich auch für eine breite innerstaatliche Diskussion unter Einbindung der Bürger aus. Ein "öffentlicher Konvent" solle in Österreich "die großen Zukunftsfragen" der EU erörtern. Als Themen nannte der Kanzler etwa die Zusammenlegung von EU-Ratspräsident und EU-Kommissionspräsident sowie die Bildung gemeinsamer europäischer Parteilisten.

Auf ein gemeinsames Vorgehen aller EU-Staaten hofft der Bundeskanzler nicht. Das Warten "auf den Langsamsten" habe bisher nämlich dazu geführt, dass es in der Sozial- oder Sicherheitspolitik kaum Fortschritte gegeben habe. Skeptisch steht er auch einer Reform der Institutionen wie etwa ein eigenes Eurozonen-Budget, weil das unrealistisch sei. Der Lissabon-Vertrag solle nicht aufgemacht werden, weil eine Reform jahrelang dauern würde. Stattdessen sollte sich eine Staatengruppe bilden, die gemeinsam rascher vorankommt.

Österreich will in die Vorreiter-Gruppe

Konkret sprach der Kanzler von einer Koalition aus derzeit sieben oder acht Staaten unter Führung Frankreichs, der sich auch Deutschland anschließen dürfte. Auch Österreich habe "Interesse angemeldet", dieser Gruppe anzugehören. Sie könnte noch heuer ein eigenes Papier vorlegen. "Wir werden sehen, was bis Dezember möglich ist in dieser Gruppe".

"Ich erwarte mir insbesondere in der Steuerpolitik Fortschritte", sagte Kern mit Blick auf die Harmonisierung der Unternehmenssteuern. Dies sei auch mit Blick auf den Brexit und die Überlegungen Londons, Großbritannien nach dem EU-Austritt zu einem "Singapur Europas" mit niedrigen Steuern zu machen. Scharfe Kritik übte er neuerlich an Ungarn, das Milliarden an EU-Fördergeldern bekomme und zugleich die Unternehmenssteuer auf neun Prozent gesenkt habe. "Da kann man nur massiv Kritik üben. Es kann nicht sein, dass mit den Mittel europäischer und österreichischer Steuerzahler in Nachbarländern Steuersätze subventioniert werden." Hier solle die "Gruppe der Willigen" durch gemeinsame Vorschläge "Druck ausüben".

Sorgen um FPÖ-Regierungsbeteiligung

Bundeskanzler Kern macht indes im Kreise seiner EU-Amtskollegen "reihum" die Sorge vor einer möglichen Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen nach der Nationalratswahl aus. "Die gelten als krass antieuropäisch", sagte Kern am Freitag vor österreichischen Journalisten in Tallinn auf die Frage, ob er beim EU-Gipfel auf die FPÖ angesprochen worden sei. "Das hast Du natürlich als Besorgnis, ganz klar", sagte Kern. Besonders ausgeprägt sei dies bei EU-Kommissionspräsident Juncker, weil dieser "das größte Sensorium und die beste Kenntnis Österreichs" habe.

Der SPÖ-Chef räumte aber ein, dass es vor der zweiten Bundespräsidentenwahl "schlimmer" gewesen sei als jetzt. Nach Brexit und Trump habe es nämlich die Einschätzung gegeben, dass Europa vor dem Abgrund stehen könnte. "Die Sorge war, dass Österreich der erste Stein ist und dann ein Land nach dem anderen kippt. Es hat sich dann herausgestellt, dass die Rechtspopulisten doch weit weg von der Machtergreifung sind."

Kern berichtete auch, dass er sich um seine Wahlchancen keine Sorgen machen müsste, wenn nur die 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union wahlberechtigt wären. In dem Gremium, in dem konservative und liberale Politiker in der überwiegenden Überzahl sind, würde er wohl eine "deutliche absolute Mehrheit" bekommen, sagte der SPÖ-Chef scherzhaft. Der Gipfel in Tallinn ist der letzte vor der Nationalratswahl.