Herr Palmer Sie sagen als Grünen-Politiker und Bürgermeister der schwäbischen Universitätsstadt Tubingen vor allem in der Flüchtlingspolitik immer wieder Dinge, die Ihrer Partei den Atem stocken lassen. Nun haben Sie mitten im deutschen Bundestagswahlkampf ein Buch veröffentlicht, das Ihre Partei und Ihre Wähler nicht gerade schont. Haben Sie keine Angst, dass das mehr schadet als nützt?

PALMER: Nein, ich bin überzeugt davon, dass politische Debatten die Dinge voranbringen. Den Grundkonsens meiner Partei - das wir offen und streitbar sind - halte ich für sehr wertvoll.

Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Wortwahl bei den Grünen ein offenes Ohr finden?

PALMER: Das hängt davon ab. Bei manchen vielleicht nicht. Einige sagen, sie lesen bewusst nicht, was ich schreibe. Aber von der kommunalen Basis habe ich in den letzten zwei Jahren ohnehin viel Unterstützung erhalten. In der Summe bin ich überzeugt, dass das Buch auch in meiner Partei einen Debatten-Impuls setzen kann. Das ist allerdings nur ein Nebenaspekt. Denn das Buch behandelt ja nicht innerparteiliche Diskussionen, sondern es geht um die Flüchtlingspolitik in Deutschland als Ganzes und sehr viel mehr um Angela Merkel als um meine Partei.

Die Flüchtlingspolitik war zentrales Thema im Wahlkampf und ist es auch in den Koalitionsverhandlungen, bei denen sich Ihre Partei positionieren muss. Sie liegen dabei nicht unbedingt immer auf der Linie der Grünen. Sie werden auch als Querkopf bezeichnet.

PALMER: „Auf der Linie liegen“ ist nicht meine hervorstechende Eigenschaft, da haben Sie schon Recht. Ich mache mir gerne meine eigenen Gedanken. Aber es zeichnet die Grünen auch aus, dass sie solche Leute aushält. Hans Christian Ströbele hat das ebenfalls gemacht. Der Dissens, den es mit mir gibt, betrifft nicht die Ziele und Grundsätze. Ich will Flüchtlingen helfen. Und ich will auch, dass wir mehr und bessere Hilfe leisten als derzeit. Mit geht es aber auch um Instrumente, Steuerung, Regelung und Kontrolle. Da glaube ich schon, dass wir als Grüne mehr leisten müssen, als wir in der Vergangenheit getan haben. Das ist aber ein politischer Sachdiskurs, den es in allen Parteien gibt und den ich für produktiv halte.

Die Debatte um die Flüchtlingskrise wirkt immer noch nach, obwohl mehr Sachlichkeit hineingekommen ist. Trotz aller Fakten wird sie immer noch als Streit zwischen „Gut“ und „Böse“ geführt.

PALMER: Leider.

Fehlt Ihnen der Realismus in dieser Debatte?

PALMER: Mein Eindruck ist, dass der Streit zwischen Gut und Böse geführt wird, die große Mehrheit der Menschen darüber aber nur den Kopf schüttelt. Die Extreme bestimmen den Ton und darüber möchte ich hinwegkommen. Deswegen versucht das Buch aufzuzeigen, dass es einerseits vielfältige Grenzen der Belastbarkeit einer Gesellschaft gibt und unbegrenzte Hilfe nicht möglich ist. Andererseits möchte ich klarmachen, dass eine unmenschliche Haltung - also einfach dichtmachen und Leute ihrem Schicksal überlassen, wie schlimm es auch sein möge - genauso wenig in Frage kommt. Tatsächlich ist die Debatte nicht Schwarzweiß. Es gibt sehr viele Grau-Schattierungen bei einem moralisch so aufgeladenen Thema wie der Flüchtlingshilfe.

Machen Sie jemandem einen besonderen Vorwurf?

PALMER: Nein. Beide Extreme benehmen sich gleich schlecht. Die einen schreien sofort „Gutmensch“, „Naivling“ oder „Umvolkung“, wenn jemand über positive Erlebnisse mit Flüchtlingen berichtet oder die eigene Hilfe beschreibt. Die anderen beklagen „Hetze“, „braune Soße“ und „AfD-Sprache“, wenn man einfach nur ein tatsächlich vorhandenes Problem beschreibt wie einen kriminellen Übergriff einer Gruppe von Asylbewerbern oder dann Maßnahmen einfordert. Da sind beide Seiten genauso moralisch und unproduktiv in der Debatte unterwegs.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Wortwahl immer auf der sauberen Seite gewesen sind?

PALMER: Ich habe jedenfalls nie an dieser Verunglimpfungskultur teilgenommen und immer versucht, Sachverhalte zu beschreiben. Sie können allenfalls meine Zuspitzungen und plakativen Formulierungen kritisieren. Das ist im politischen Geschäft aber Standard, sonst wird man nicht gehört. Deswegen finde ich schon, dass ich einen pragmatisch-nüchternen Ansatz durchgehalten habe.

Aber genau diese Zuspitzen können Teile der Bevölkerung nicht mehr nachvollziehen, weil sie darin Populismus erkennen und sich bestätigt fühlen. Wird damit nicht der sachliche Diskurs behindert?

PALMER: Ich sehe in der Zuspitzung und der Klarheit der Formulierung nicht das Problem, sondern in der Ausgrenzung, der Stigmatisierung sowie dem Moralisieren und deshalb beteilige ich mich nicht daran.

Sie beschreiben im Buch viele praktische Probleme, die durch die Flüchtlingskrise entstanden sind. Was ist in Deutschland schiefgelaufen?

PALMER: Zunächst wollte wir uns überhaupt nicht mit den Flüchtlingen beschäftigen. Wir Deutsche haben über Jahre hinweg gut damit gelebt, dass gar keine kommen konnten und haben die Italiener mit dem Problem alleingelassen. Das war der Ausgangsfehler. Dann haben wir uns nicht drauf eingestellt, dass plötzlich sehr viele zu uns kommen. Deswegen waren all unsere Behörden katastrophal überlastet.

Und zum Schluss?

PALMER: Der letzte Fehler bestand darin, über einen viel zu langen Zeitraum offene Grenzen hinzunehmen und darauf zu warten, dass Österreich die Initiative ergreift, um die Balkanroute wieder in Ordnung und unter Kontrolle zu bringen. Das sind die wesentlichen Fehlleistungen. Daran kauen wir heute noch. Wir haben viele Menschen über sehr lange Zeiträume in großen Hallenunterkünften untergebracht. Der Integrationsprozess konnte nicht beginnen. Oftmals sind noch nicht einmal die Asylverfahren bearbeitet. Da sind sachlich schon viele Dinge falsch gelaufen.

Die Angst richtet sich aktuell in erster Linie gegen Ausländerkriminalität und gegen fehlende Integration. Sind wir zu nachgiebig mit Flüchtlingen und Migranten?

PALMER: Erst einmal haben wir falsche Startbedingungen geschaffen. Wenn Sie 500 Alpental-Bewohner über ein Jahr in eine Turnhalle sperren, ihnen keine Arbeit geben, sie von ihrem sozialen Umfeld abkoppeln und dann noch viele junge Männer darunter haben, dann geht das auch nicht gut. Das müssen wir zunächst abarbeiten, da dort die Kriminalität in überproportionalem Maß auftritt. Darüber darf man sich nicht wundern, man darf es aber auch nicht wegdiskutieren oder kleinreden. Wir haben in Deutschland zehn Prozent aller Sexualstraftaten Flüchtlingen zuzurechnen. Das ist schlicht zu viel. Da muss der Staat genauer hinschauen.

Es stagniert im Asylverfahren und es kommen wenige Flüchtlinge schnell in Beschäftigung, so dass man ihnen Wohnungen verschaffen und sie besser integrieren kann. Gibt es pragmatische Dinge, wo Sie sagen, da sind mir die Hände gebunden, weil die Bundespolitik bei den großen Richtlinien falsche Maßnahmen gesetzt hat?

PALMER: Nein. Meine Kernkritik ist, dass alles unvorbereitet war, viel zu viele Menschen auf einmal aufgenommen wurden und jetzt lange nacharbeiten werden muss, um das wieder in Ordnung zu bringen. Das sind systemische Probleme, die mit den Leuten, die gekommen sind, nur zum Teil zu tun haben. Dass ich als Bürgermeister aus der Praxis über vielfältige Probleme berichten kann, die von den höheren Ebenen ignoriert oder nicht gelöst werden, stimmt auch. Das betrifft insbesondere das Baurecht. Wenn man in Deutschland schnell bauen will, dann stößt man auf nahezu unüberwindbare Hindernisse. Deswegen haben wir zwei Jahre gebraucht, um den Wohnraum für die zu schaffen, die 2015 gekommen sind.

Nennen Sie ein Beispiel?

PALMER: Das fängt an bei Tennisplätzen, die angeblich zu laut sind, um daneben Asylbewerber unterzubringen. Es geht über Schafgeruch, den man ihnen nicht zumuten kann, und „Juchten-Käfer“, die auf Bauplätzen auf einem einzelnen Baum stehen und die deswegen halbiert werden müssen. Es endet bei Barrierefreiheit, Hochwasser- und Erdbebenschutz, wo wir immer so bauen, als wäre es für die Ewigkeit, dabei wissen wir aber, es handelt sich nur um einen Interims-Standort, der in zehn Jahren wieder weg sein muss. Da lähmt sich die deutsche Bürokratie selbst.

Es ist ein oft gehörter Vorwurf von Polizisten, dass es viel zu leichtfertig gehandhabt wurde, wen wir ins Land gelassen haben. Dass man zu lax mit Asylverfahren umging, weil Pässe verschwunden waren oder im Krieg nicht mitgenommen wurden. War man zu generös?

PALMER: Ich halte das nicht für eine Frage von Generosität oder Härte sondern von guter Organisation. Wir haben in den meisten Fällen gar nichts gemacht. Die Asylverfahren liegen brach. Die Leute dämmern von einem Tag in den nächsten, weil sie nichts zu tun haben und keine Perspektive. Dass man dann nachher Härte braucht, um die daraus entstehenden Kriminalitätsprobleme in den Griff zu bekommen, stimmt. Aber die Ursache ist nicht fehlende Härte, sondern schlicht Kontrollverlust und Organisationsversagen.

Spüren Sie das auch in Ihrer Stadt? Und wieweit müssen Sie sich die Verantwortung mitanhaften lassen?

PALMER: Ja. Wir haben leider in diesem Jahr eine Vielzahl von Ereignissen, die auf die Entwicklung 2015 zurückgeht. Wir hatten einen Serien-Vergewaltiger aus Gambia, der vier Frauen vergewaltigt hat – davon zwei versuchte und zwei vollendete Vergewaltigungen. Wir haben ein Drogendealer-Problem mit gambischen Flüchtlingen in der Innenstadt, das sich schwer in den Griff kriegen lässt. Wir hatten auf Festen und Veranstaltungen sexuelle Übergriffe von Asylbewerbern. Wir hatten den Fall eines syrischen Asylbewerbers, der eine Zehnjährige vom Fahrrad gerissen hat und sie in einen Busch gedrückt hat, um sie zu vergewaltigen. Das kommt tatsächlich in den Kommunen an. Die Probleme sind da und sie gehen darauf zurück, dass wir 2015 die Kontrolle darüber verloren haben, wer zu uns kommt und dass wir diese Menschen nicht in unsere Gesellschaft integrieren konnte.

Glauben sie, dass es gelingen wird, die Kontrolle wiederzuerlangen?

PALMER: Wir sind dabei nachzuarbeiten. Als ich gesagt habe, wir schaffen das nicht, kamen 10.000 Menschen pro Tag nach Deutschland, mittlerweile kommen weniger als 1000 pro Tag. Das erlaubt es uns, die Leute nach und nach kennenzulernen und auf sie zuzugehen. Ich war neulich in der Unterkunft mit der Polizei und habe allen präzise erklärt, wie das Sexualstrafrecht aussieht, was man unterlassen muss und was passiert, wenn man es doch tut. Wir haben über 1000 Wohnungen für Flüchtlinge im Bauprogramm kurz vor der Fertigstellung. Wir arbeiten das nach, wir werden das wieder in den Griff bekommen. Die Voraussetzung ist aber, dass es dabei bleibt und die Grenzen kontrolliert werden und dass nicht einfach diejenigen, die den Schlepper bezahlen können und stark genug sind, sich auf den Weg machen, um nach Deutschland zu kommen. Die Situation darf sich nicht wiederholen.

Stimmen Sie da der Linie des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz zu, der vorangetrieben hat, die Balkanroute zu schließen?

PALMER: Was die Schließung der Balkanroute angeht, werfe ich Kanzlerin Angela Merkel vor, dass sie in Deutschland einen moralischen Imperativ verkündet hat. Dieser Imperativ besagt letztlich, wir allen helfen müssen, die es schaffen, deutschen Boden zu betreten. Gleichzeitig war Deutschland aber nicht bereit, selbst die schmutzige Arbeit der Sicherung der Grenzen auf dem Balkan mitzutragen, sondern das anderen überlassen hat. Wir wissen alle, ohne diese Grenzsicherung wäre die Situation in Deutschland nicht beherrschbar gewesen. Welche Rolle der Pakt mit der Türkei dabei gespielt hat, kann offen bleiben. Der hat Griechenland eher gerettet, als dass er die europäischen Schengen-Grenzen gesichert hat.

Kurz hat auch gesagt hat, man müsse die Schlepperei im Mittelmeer unterbinden?

PALMER: Bei der Flucht über das Mittelmeer ist es noch schlimmer, weil es so viele Menschen in den Tod reißt. Deswegen finde ich, auch wenn ich mich nicht auf Ihren Außenminister beziehe, den Vorschlag von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nachvollziehbar. Man muss mit Libyen kooperieren und sollte dort Hotspots einrichten, um die Asylregistrierung und die Prüfung von Anträgen vorzunehmen. Die Küstenwache sollte das Ablegen der Schiffe verhindern, die ohnehin nicht weiterkommen können als 20 Kilometer.

Für diese Position bekommen sie vermutlich aus Ihrer Partei wenig Applaus.

PALMER: Das stimmt, aber sich für den Vorschlag des französischen Präsidenten auszusprechen, ist innerhalb des demokratischen Diskurses zulässig und man muss nicht immer auf Applaus aus sein.

Aber ärgert Sie das manchmal, dass Sie dann von der falschen Seite Applaus bekommen?

PALMER: Es nützt nichts, sich darüber zu ärgern. Es ärgert mich nur, wenn daraus ein Argument gemacht wird. Denn dann dürften wir Grüne uns auch gar nicht mehr gegen TTIP äußern, das finden die AFD und US-Präsident Donald Trump auch falsch. Wer also gegen TTIP ist, bekommt Beifall von Trump und AFD, deshalb ist aber doch die Position nicht falsch.

Boris Palmer: "Wir können nicht allen helfen" (Siedler Verlag, 256 Seiten, 18,50 Euro)
Boris Palmer: "Wir können nicht allen helfen" (Siedler Verlag, 256 Seiten, 18,50 Euro) © Siedler Verlag