Gerade erst hat Martin Schulz eine kurze Geschichtsstunde begonnen. Der SPD-Kanzlerkandidat erzählt auf dem Marktplatz von Peine vor mehr als 1000 Zuhörern vom Vater des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Schulz hat als Europapolitiker eng mit dem Luxemburger zusammengearbeitet. Dessen Vater sei im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen für die Wehrmacht zwangsrekrutiert worden, sagt Schulz auf der Wahlkampfkundgebung in der niedersächsischen Kleinstadt. Dennoch habe Junckers Vater gesagt: „Ja, ich will die Versöhnung mit den Deutschen.“ Schulz empfindet mit feierlicher Stimme die Worte des Mannes nach: „Wir werden nie Frieden auf diesem Kontinent haben, wenn ...“
Doch ehe er den Satz zu Ende bringen kann, öffnet sich im Turm des Alten Rathauses ein Türchen. Die Figur eines Trompeters erscheint, eine Fanfare erklingt. „Genau“, sagt Schulz, schaut aber verdutzt aus. Der SPD-Kanzlerkandidat setzt ein, zwei Mal dazu an, weiterzureden. Dann erst lernt er, dass die Fanfare um diese Uhrzeit ein mehrminütiges Glockenspiel einleitet. Der krönende Abschluss: „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus.“
Ein Jahr der Überraschungen
Es ist das Jahr der Überraschungen für Martin Schulz. Erst tritt Sigmar Gabriel, nach mehr als sieben Jahren als Parteichef, den SPD-Vorsitz und die Kanzlerkandidatur an den Europapolitiker aus dem rheinischen Würselen ab. Dann klettern die Zustimmungswerte für die SPD in ungeahnte Höhen. In den Wochen des Schulz-Hypes wird er schon „der Messias“ und „der Gottkanzler“ genannt. Bis der Absturz folgt: drei verlorene Landtagswahlen. Und ein unendliches Umfragetief.
Was treibt Schulz an? Wo liegen seine Wurzeln? Wer den SPD-Vorsitzenden über die vergangenen Monate begleitet hat, kann zu folgendem - erstaunlichen - Ergebnis kommen: Schulz ist zwar ein Spitzenpolitiker. Doch seinem Wesen nach ist er eigentlich ein Lehrer, obwohl er diesen Beruf nie erlernt hat. In seinem Auftreten erinnert Schulz an einen von seinem Thema beseelten Geschichts- oder Politikpädagogen, der nichts lieber tut, als zu Menschen zu gehen, um über die Vorzüge eines demokratischen Europas zu sprechen. Über Respekt und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
"Feeling" für Youtube
Der Wahlkampf bietet Politikern Chancen, fremde Welten kennenzulernen. Die Namen Marcel Scorpion, Nihan und ItsColeslaw waren Schulz bis vor Kurzem kein Begriff. Aber sie sind Stars auf dem Internetportal Youtube, Hunderttausende junge Leute schauen ihnen zu. Als Schulz sich von ihnen interviewen lässt, sagt er, er habe natürlich keine Zeit, sich ständig Youtube-Videos anzuschauen. Aber gelegentlich tue er es, um ein „Feeling“ zu entwickeln. „Dadurch kapiere ich, dass mein Lebensgefühl eines 61-jährigen Mannes nicht das Lebensgefühl einer 22- oder 24-jährigen jungen Frau ist.“ „Das heißt aber nicht, dass ein 61-jähriger Mann nicht Feeling aufnehmen kann.“
Schulz wirbt bei Youtube für seine Herzensthemen Europa und Demokratie. „Was war der größte Mist, den Sie als Jugendlicher gebaut haben?“, will Nihan Sen, eine junge Frau mit türkischen Wurzeln, die Videos wie „Fünf Dinge, die Mädchen an Jungs lieben“ veröffentlicht, von ihm wissen: Das könne er nicht erzählen, entgegnet Schulz. Dafür bietet er an, über „den zweitgrößten Mist“ zu reden. „Ich hab in einer durchzechten Nacht“, sagt er - und bricht lachend ab. Dann fährt er fort: „Ich hab ein Paket Waschpulver ins Freibad geschüttet.“
Schulz wirkt hier wie ein Lehrer, der seinen Schülern sagen will: „Ich bin einer von euch.“
Lehrauftrag in der Politik
Woher kommt der Lehrauftrag, den er in der Politik erfüllen möchte? Sein Vater war Polizist, seine Mutter Hausfrau. Sie war in der CDU, der Vater stammte aus einer sozialdemokratischen Familie. Schulz ist das jüngste von fünf Kindern. Er winkt ab, wenn er hört, dass seine Schwester Doris sagt: „Der ist total verwöhnt worden.“ Schulz vernachlässigte die Schule, weil er lieber Fußballprofi werden wollte. Er spielte gut, aber nicht gut genug. Das Gymnasium brach er ab, den Sport musste er wegen einer Verletzung aufgeben. Schulz verfiel dem Alkohol, befreite sich aber aus der Sucht. Mit nur 31 Jahren wurde er Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen. Später brachte er es bis zum Präsidenten des Europäischen Parlaments.
All das ist wahr. Zugleich ist es Teil der Selbstinszenierung von Schulz als Mann aus der Kleinstadt, der das Leben in all Höhen und Tiefen kennt. Der Kern des Politikers Martin Schulz liegt tatsächlich in seiner Heimat. Im Dreiländereck - dort, wo Deutschland, Belgien und die Niederlande aufeinandertreffen - gibt es einen kleinen Obelisken. Schulz reist mit Journalisten gern hierher. Der Politiker legt kurz seine Hand auf die Spitze des Obelisken. Dann läuft er um den Steinpflock herum. „Ich war jetzt in drei Ländern“, ruft er. „In drei Ländern“, wiederholt er, begeistert wie ein kleines Kind. Dann fordert er alle, die dabei sind, auf, es ihm gleichzutun.
Wenig später steht Schulz auf dem Aussichtsturm im niederländischen Vaals. „Wer hier aufwächst, wächst mit drei Sprachen und Kulturen auf“, ruft er gegen den Wind. Der gewöhnt sich schnell jede Hochnäsigkeit gegenüber anderen ab.“
Zweite Heimat: Die Bücher
Eine zweite Heimat sind für Martin Schulz die Bücher. Die Buchhändlerlehre war für ihn die Rettung, als es mit dem Traum von der Fußballkarriere vorbei war. Schulz las wie ein Besessener und lernte das Wissen zu schätzen, das ihn in der Schule kaltgelassen hatte. Schulz liebt das gedruckte Wort. Er kann ganze Passagen aus Kinderbüchern vortragen, aus denen er früher seinen Kindern vorlas. Und: Er prägt sich Zitate ein, die ihn faszinieren.
Viele waren irritiert, als Schulz im TV-Duell mit Angela Merkel beim Thema Islam plötzlich „ein wunderbares Zitat eines großen schiitischen Philosophen“ vortrug: „Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort, dort treffen wir uns.“ Doch so ist er: Er ist begeistert, von dem, was er gelesen hat, will es weitergeben. Das eine Mal passt es. Das andere Mal wirkt es deplatziert.
Der perfekte Job: EU-Parlamentspräsident
Als Präsident des Europaparlaments hatte Schulz den perfekten Job gefunden. Doch er musste das Amt abgeben, weil sich Konservative und Sozialisten in Brüssel darauf verständigt hatten, die Präsidentschaft aufzuteilen. Also griff er zu, als sich die Chance bot, Kanzlerkandidat zu werden. Dabei ist er keiner, der unbedingt Kanzler sein muss. Als seine Umfragewerte nach oben schossen, wurde ihm die Sache wohl selbst unheimlich. Er machte sich rar. Damit kam er angeblich einem Wunsch der wahlkämpfenden Ministerpräsidentin Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen nach. Danach war das Feuer aus.
Schulz hätte vermutlich große Freude am Posten des Außenministers. Würde er die SPD erneut als Juniorpartner in eine Große Koalition führen? Eisern sagt er, die SPD wolle stärkste Partei werden.
Schulz ist ein fröhlicher, offenherziger und empfindsamer Mensch. Er kann aufbrausend sein, wenn etwas nicht läuft, wie er möchte. Aber im Wahlkampf wahrt er angesichts entmutigender Umfragewerte die Disziplin. Einen Stinkefinger, wie vor vier Jahren der SPD-Kandidat Peer Steinbrück, würde er den Menschen nie entgegenstrecken. In Peine ruft Schulz seinen Anhängern zu: „Wir kämpfen nicht für Umfragen. Wir kämpfen für unsere Überzeugungen.“ Und beweist, dass er mit Überraschungen souverän umgehen kann. Nachdem ihm das Glockenspiel immer wieder das Wort abgeschnitten hat, lacht er ausgiebig. „Wartet doch mal, das ist doch toll“, ruft er dem Publikum zu. Als der letzte Ton erklungen ist, blickt der SPD-Chef hoch zum Trompeter und sagt: „Ich glaube, der ist in der CDU.“ Gelächter. Dann setzt Schulz seine Geschichtsstunde fort.