In einem Berliner Außenbezirk steht ein Plakat, das in Schwarz-Weiß-Ästhetik einen jüngeren Mann zeigt, der seinen Dreitagebart verträumt nach unten gesenkt hat. Fehlt nur ein Wasserschwall von oben und schon wäre das Sujet für einen Herrenduft perfekt. Doch der Mann ist kein Werbemodel, sondern Vorsitzender der Freien Liberalen und will, wenn alles gut geht, nach der Bundestagswahl am Sonntag deutscher Vizekanzler werden.
Als Juniorpartner von Angela Merkels CDU stünde FDP-Chef Christian Lindner der Posten des Wirtschafts-, Finanz- oder Außenministers zu - Letzteres war über Jahrzehnte hinweg die Bastion der Liberalen. Bis sie im politischen Betrieb als monothematische Steuersenkungspartei und reines CDU/CSU-Anhängsel zuletzt für die meisten Wähler überflüssig erschienen und in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Mit dem 38-Jährigen winkt die sichere Rückkehr in die Bundespolitik. Lindner ist der politische Erbe von Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel und Guido Westerwelle. Und doch verkörpert er nicht mehr die alte FDP. Er kann für sich in Anspruch nehmen, der Partei mit einem breiteren Themenfeld erfolgreich neues Leben eingehaucht zu haben.
Mit dem Erfolg kam aber auch der Spott über seine Selbstinszenierung. Sie ist in Talkshows mehr Thema als seine Inhalte. Eine Satiresendung hat sein Plakat mit dem Spruch versehen: „Alle elf Sekunden verliebt sich ein Liberaler in sich selbst.“
Tatsächlich hängt der Erfolg überwiegend vom Fokus auf seinen jugendlichen Auftritt ab. Und über diese Brücke auch, ob sich Merkel mit ihrem Wunschpartner zur Kanzlerin wählen lassen kann. Reicht es nicht, muss sie wieder auf die Große Koalition zurückgreifen oder es mit Grün probieren, möglicherweise sogar mit FDP und Grün. Immerhin hat die Ökopartei inzwischen Regierungserfahrung auf Landesebene mit der CDU. 2013 hat man das noch kategorisch ausgeschlossen, doch jetzt sympathisiert das Spitzenduo Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt offen mit Schwarz-Grün. Vor allem seit selbst eine Koalition mit SPD und Linken rechnerisch ausgeschlossen ist.
Doch das Verhältnis zwischen Lindner und Özdemir sowie Göring-Eckardt ist alles andere als herzlich. Lindner sagt, ihm gehe die Vorstellungskraft für eine Zusammenarbeit ab. Göring-Eckardt betont, ihre Partei und die Liberalen hätten „diametral andere Positionen“. Wofür die Grünen thematisch stehen, scheint den Wählern immer weniger klar zu sein. Nach einem Zwischenhoch mit fast 15 Prozent befindet sich die Partei seit Monaten im Sinkflug.
Ein klarer Trend im Rennen um den dritten Platz hinter Union und SPD ist aber noch nicht zu erkennen. Je nach Umfrageinstitut und oft von Woche zu Woche schwankend liegen abwechselnd die FDP, die AfD oder gelegentlich sogar die Grünen vorne, die Linke meist dahinter, aber alle immer zwischen sieben und elf Prozent.
Dabei wird der Ton rauer. Der FDP-Chef nannte die rechtspopulistische AfD eine „Provokationsmaschine“. Deren Chefin Frauke Petry konterte, Lindner ködere die Unzufriedenen mit ungedeckten Schecks, drücke sich um klare Aussagen. Dies ließ wiederum Lindner nicht auf sich sitzen und warf der AfD vor, sie interessiere sich in den Landtagen, in denen sie nun sitze, nicht für die „Arbeit an Konzepten und Gesetzestexten“.
Der Wettbewerb um die vielen Unentschlossenen ist voll entbrannt, seit das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz keine Wende im Endspurt zugunsten der SPD signalisiert hatte. Wer sich auf den Straßen Berlins umhört, erfährt häufig den Satz, ein Kreuz für die SPD sei eine verlorene Stimme. Entweder man entscheidet sich für Grüne oder FDP, wenn man neben der Kanzlerin auf der Regierungsbank sitzen will, oder mit Linken oder AfD für das Gegenteil. Denn die Stärke der AfD wird darüber entscheiden, ob überhaupt etwas anderes möglich ist als eine Große Koalition. Die Landtagswahlen haben gezeigt, dass das AfD-Ergebnis bis zum Schluss unkalkulierbar bleibt.
Die Linkspartei hat sich bereits auf vier weitere Jahre Opposition eingestellt. Ihre Rolle als einzige Protestpartei hat sie an die AfD eingebüßt. Und so versuchen sich die Linken derzeit zwischen seriöser Systemkritik und dem Wachhalten eines Machtwechsels zu Rot-Rot-Grün mit der steten Erinnerung an ihre Regierungsbeteiligungen in einigen Bundesländern. Und wenn nicht jetzt, dann doch wenigstens 2021. Denn dann wird Merkel wohl nicht nicht mehr antreten und die SPD sich völlig neu aufgestellt haben - inhaltlich und personell. Aber dann hat der Bundestag auch vier Jahre AfD erlebt.
Ingo Hasewend