Wegen Sicherheitsrisiken im Mittelmeer vor Libyen unterbrechen einige Hilfsorganisationen ihre Missionen zur Migrantenrettung. Einen Tag nach Ärzte ohne Grenzen zogen am Sonntag die deutsche Organisation Sea Eye und später auch Save the Children nach. Grund dafür sei eine veränderte Sicherheitslage, nachdem die libysche Regierung eine unbestimmte und einseitige Ausdehnung ihrer Hoheitsgewässer angekündigt hatte - verbunden mit einer expliziten Drohung an private Nichtregierungsorganisation, teilte die Gruppe aus Regensburg am Sonntag mit.
Hilfsorganisationen spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei der Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. In diesem Jahr hatten sie mehr als ein Drittel aller Migranten aufgegriffen, 2014 waren es noch weniger als ein Prozent. Über Libyen kommen derzeit die meisten Menschen, die versuchen, über das Mittelmeer in die EU zu gelangen. Bei dem Versuch sterben Tausende.
"Eine Fortsetzung unserer Rettungsarbeiten ist unter diesen Umständen aktuell nicht möglich. Wir können dies auch gegenüber unseren Crews nicht mehr verantworten", sagte Sea-Eye-Gründer Michael Buschheuer. "Wir hinterlassen eine tödliche Lücke im Mittelmeer." Dieses Jahr starben bereits mehr als 2400 Menschen auf der Route.
Auch Ärzte ohne Grenzen (MSF) setzten ihre Flüchtlingsrettungsmission im Mittelmeer aus. Die Hilfsorganisation fühlt sich von der libyschen Küstenwache bedroht und die Politik der italienischen Regierung habe ihre Arbeit erschwert, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf den MSF-Chef Italiens, Loris De Filippi.
"Für NGOs wird das Klima auf dem Mittelmeer immer feindseliger. Das wird eine riesige Lücke in die Such- und Rettungskapazitäten reißen und Menschenleben fordern", twitterte Ärzte ohne Grenzen. Wie Sea Eye bezog sich die Organisation auf Berichte, wonach libysche Behörden ihre Kontrolle auf internationale Gewässer ausweiten wollen und diese Ankündigung mit einer expliziten Drohung gegen die humanitären Schiffe verknüpften.
"Nachdem die libysche Küstenwache in der Vergangenheit schon öfter auf Flüchtlingsboote und auch auf Rettungsschiffe geschossen hat, können wir dieses Risiko nicht mehr auf uns nehmen und dieses Gebiet weiterhin befahren. Das sind wir unseren Crews, der Sicherheit unserer Leute schuldig", sagte Sea-Eye-Sprecher Hans-Peter Buschheuer. Die Hilfsorganisation sprach von einer "tödlichen Lücke" im Mittelmeer, weil die Chance auf Rettung nun geringer wird. Heuer starben bereits mehr als 2400 Menschen auf der Route.
Die libysche Küstenwache bekräftigte ihren Vorwurf, dass einige Organisationen mit Schleppern zusammenarbeiteten. "Wir haben keine Beweise. Aber es ist schon merkwürdig, dass keine Flüchtlingsboote unterwegs sind, wenn die libysche Küstenwache auf See ist, aber Schiffe dieser Organisationen in der Nähe sind", sagte der Sprecher Ayub Kasim. Die Anweisung an ausländische Schiffe, nicht in die von Libyen eigenmächtig erweiterte Such- und Rettungszone für die Boote mit Migranten einzudringen, stimme mit internationalem Recht überein.
Die spanische Proactiva Open Arms will dagegen weitermachen. "Für uns ändert sich nicht viel im Vergleich zu den vergangenen Wochen", sagte Riccardo Gatti der Zeitung "La Repubblica". "Wir werden unsere Rettungseinsätze ohne Pause fortführen." Nach Angaben der Organisation war ihr Schiff in der vergangenen Woche im Mittelmeer von der libyschen Küstenwache mit Warnschüssen bedrängt worden.
Für MSF scheint die Sicherheit nicht der einzige Beweggrund zu sein, die Mission der "Vos Prudence" zu unterbrechen. "Das Problem ist die absurde und rücksichtslose politische Linie der italienischen Regierung und von Europa, um das Migrationsproblem zu lösen", sagte MSF-Migrationskoordinator Stefano Argenziano "La Repubblica". "Die Libyer können ohnehin bereits mit der Unterstützung Europas und Italiens machen, was sie wollen. Wir wollen nicht Teil dieses illegalen, abartigen und unmenschlichen Mechanismus sein." Ein medizinisches Team werde aber an Bord des Rettungsschiffs "Aquarius" von SOS Mediterranee bleiben.
"Prudence" betroffen
Ihre Mittelmeer-Mission werde aber "nicht gänzlich" ausgesetzt, erläuterte MSF auf APA-Anfrage. Betroffen sei nur das von MSF betriebene Schiff Prudence. Die Hilfsorganisation wolle weiterhin mit der NGO SOS Mediterranee kooperieren, an Bord deren Schiffs Aquarius auch ein Team von Ärzte ohne Grenzen zur medizinischen Versorgung von Geretteten ist. Die Prudence lag am Samstag im Hafen von Catania auf Sizilien.
"Wir setzen unsere Aktivitäten aus, weil wir nun das Gefühl haben, dass das bedrohende Verhalten durch die libysche Küstenwache sehr ernst ist ... wir dürfen unsere Kollegen keiner Gefahr aussetzen", sagte De Filippi zu Reuters. Die libysche Marine hatte angekündigt, ausländischen Rettungsschiffen den Einsatz in einer "Such- und Rettungszone" vor der Küste zu verbieten.
Bisher hätten Such- und Rettungsoperationen bis zu 11 Seemeilen vor dem Festland stattfinden können, erklärte er. "Letztes Jahr hat die Küstenwache 13 Schüsse auf unser Boot abgefeuert, das war in einer Situation, die viel ruhiger als die jetzige war", sagte De Filippi. Save the Children prüft nach Angaben der Nachrichtenagentur Ansa einen Stopp ihrer Rettungsmission.
Verhaltenskodex nicht unterschrieben
Ärzte ohne Grenzen haben den Verhaltenskodex der italienischen Regierung für Rettungsmissionen im Mittelmeer im Gegensatz zu anderen Hilfsorganisationen nicht unterschrieben. Rom wolle alle NGOs kriminalisieren, ergänzte De Filippi.
Erst vor wenigen Tagen hatte die Organisation auf ihrer Homepage erklärt: "Es wurden mehrfach Anschuldigungen von Seiten der sizilianischen Staatsanwaltschaft gegen Ärzte ohne Grenzen kolportiert. Uns sind keine strafrechtlichen Ermittlungen gegen Ärzte ohne Grenzen bekannt."
Anschuldigungen unbegründet
"Die Anschuldigungen basieren auf Berichten, die nach unserer Kenntnis nicht zu offiziellen Ermittlungen geführt haben", verteidigen sich die Ärzte ohne Grenzen. Trotzdem gefährdeten sie die lebenswichtigen Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer und führten dazu, dass in Zukunft weniger hilfsbedürftige Menschen gerettet werden.
Diese Anschuldigungen lenkten auch von dem eigentlichen Problem ab, so die Organisation: Das Faktum nämlich, "dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten weder proaktive Such- und Rettungsmechanismen einführen, noch konkrete Lösungen für die Menschen schaffen, die ihr Leben in den Booten riskieren".
Medizinische Versorgung
"Ärzte ohne Grenzen" war zuletzt mit zwei Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer im Einsatz. Während der Such- und Rettungsaktion versorgten die Teams von Ärzte ohne Grenzen vor allem Menschen mit Dehydrierungen, Unterkühlungen oder schwere Verätzungen – letztere entstehen durch den Kontakt mit einer Mischung aus Benzin und Meereswasser. Weitere häufige Erkrankungen sind Durchfall, Seekrankheit, Krätze und anderen Hautinfektionen. Wegen der hohen Zahl an schwangeren Frauen war auch immer eine Hebamme an Bord, für akute Notfällen eine Notaufnahme. Zudem organisierte man den schnellen Transport von Schwerverletzten in das nächste Krankenhaus.
Die Mitarbeiter kümmerten sich auch um die psychischen Probleme der Überlebenden. Viele haben Traumatisches erlebt. Ärzte ohne Grenzen leistete psychologische Ersthilfe an Bord sowie mit einem mobilen Team an der sizilianischen Küste.
"Unterlassene Hilfeleistung"
"Ärzte ohne Grenzen" nehmen auf ihrer Homepage auch Stellung zu den Vorwürfen, man habe Menschen (zu) nahe der libyschen Küste gerettet: "Die von Ärzte ohne Grenzen betriebenen Rettungsschiffe sind immer in internationalen Gewässern positioniert - meist rund 25 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt, denn von dort aus werden die meisten Notrufe abgesetzt. Unsere Teams suchen das Meer mit Ferngläsern nach Booten ab und antworten auf Anfragen der italienischen Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung. Laut Internationalem Seerecht müssen alle Rettungseinsätze von einer solchen Leitstelle koordiniert werden. Laut italienischer Gesetzgebung ist das Ignorieren eines Notrufs auf See eine unterlassene Hilfeleistung und kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden."
In extremen Notfällen hätten sich die Schiffe zur Lebensrettung bis zur Grenze der Internationalen Gewässer auf zwölf Seemeilen der libyschen Küste genähert. In nur äußerst besonderen Fällen und ausschließlich mit Erlaubnis der libyschen Behörden seien sie noch geringfügig weiter gefahren. Im Jahr 2016 sei das drei Mal vorgekommen. In keiner Weise arbeite die Organisation mit Schleppern zusammen, wie den NGOs zunehmend unterstellt wurde. Es würden auch keine Transponder ausgeschaltet, um die Position der Schiffe zu verbergen. Und es würden keine Flüchtlingsboote mit Scheinwerfern "angelockt".
Schließung nötiger denn je
Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) zeigte sich indes besorgt über die Aktivitäten von Rechtsextremen im Mittelmeer. Durch sie habe sich die Situation "zusehends verschärft", teilte Sobotka am Sonntag in einer Aussendung mit. Man dürfe "dieses Feld nicht den Ewiggestrigen überlassen", sagte Sobotka mit Blick auf das von der rechtsextremen Mission "Defend Europe" betriebene Schiff "C-Star". Maßnahmen zur Schließung der Mittelmeerroute seien "nötiger denn je".