Ein Jahr nach dem versuchten Putsch sitzen 50.000 Menschen in Gefängnissen, 120.000 Staatsbedienstete wurden entlassen. Der Ausnahmezustand, der verlängert werden soll, ermöglicht es Präsident Erdogan, per Dekret zu regieren. Ist die Türkei ein Ein-Mann-Regime geworden?

ECE TEMELKURAN: Vor drei Jahren wäre diese Frage noch nicht so leicht zu beantworten gewesen, als die Autorität noch nicht so offensichtlich war, aber schon damals hat Erdogan darauf abgezielt. Mittlerweile weiß die ganze Welt, was in der Türkei los ist.

Nämlich?

ECE TEMELKURAN: Viele von uns – die oppositionelle Hälfte des Landes – wissen, dass sie null Rechte haben, wenn sie in die Mühlen des Gesetzes geraten. Aber ohne funktionierende Justiz gibt es keinen funktionierenden Staat. Jeder weiß, dass er wie ein Staatsfeind behandelt wird, wenn er auch nur leise Kritik an der türkischen Regierung übt.


Sie haben im Vorjahr davor gewarnt, dass Erdogan den versuchten Putsch als Chance für eine Hexenjagd auf die Opposition nützt. Ist das passiert?


TEMELKURAN: Herr Erdogan ist bekannt dafür, dass er eine Krise in eine Chance verwandelt. Ein Putsch ist eine enorme Krise, und er hat enorme Möglichkeiten daraus geschöpft. Das Unrecht ist so gewaltig in der Türkei: Tausende Unschuldige in Gefängnissen, Hunderttausend ohne Arbeit nach dieser Hexenjagd auf vermeintliche Fethullah-Gülen-Anhänger, die doch nur darauf abzielt, Regimekritiker mundtot zu machen. Aber das ist noch nicht vorbei, das geht noch weiter.


Hat der „Marsch der Gerechtigkeit“ des Oppositionspolitikers Kemal Kiliçdaroglu das Potenzial, an der politischen Situation in der Türkei etwas zu ändern?


TEMELKURAN: Sofort nicht, aber es ist die erste große Demonstration der Opposition seit Langem. Seit den Gezi-Protesten 2013 war der „Marsch“ jetzt die wichtigste Widerstandsbekundung gegen das Regime Erdogans.


Verstehen Sie, dass Österreich und etliche andere Staaten der EU türkische Politiker nicht öffentlich im Land auftreten lassen wollen?


TEMELKURAN: Die Einsicht kommt spät. Die EU hat schon vor 15 Jahren einen riesengroßen Fehler begangen, als sie Erdogan als demokratischen Staatsmann der Türkei hochgelobt und ihn beinahe zum einzigen Demokraten im ganzen Nahen Osten stilisiert hat. Europa zog es vor, blind zu sein gegenüber den Fehlern, die die AKP gemacht hat, weil das Projekt einer guten Beziehung zwischen Islam und Demokratie in ihren Ohren hübsch klang. Ich denke, dass Europa von Anfang an die Idee einer säkularen Türkei nicht begrüßt hat. Die EU hat darin versagt, sich früh mit säkularen Kräften zu verbünden, und ist auch jetzt zurückhaltend, was die Solidarität mit den Säkularen in der Türkei angeht.


Sie sind Juristin, arbeiteten lange als Journalistin in der Türkei und haben sich als Autorin etabliert. Ihre Anstellung beim TV-Sender Habertürk haben Sie 2012 verloren, weil Sie über Dinge berichteten, die der Regierung nicht passten. Wieso warnten Sie früh vor dem Regime Erdogan?


TEMELKURAN: Ich war nicht die Einzige. Es geht gar nicht um ihn allein, es geht um seine Partei. Es gibt Dutzende Gründe dafür, gegen die AKP zu sein, aber der stärkste Grund ist, dass die AKP keinen demokratischen Hintergrund hat, sondern einen, der auf Gehorsam ausgerichtet ist. Schon 1980, als sich das Militär an die Macht geputscht hat, wollte man aus der Türkei einen Staat des Gehorsams machen. Daraus ist die AKP erwachsen. Und man darf auch nicht vergessen, dass die AKP das Sprachrohr des anatolischen petit bourgeois, des anatolischen Kleinbürgers ist. Die haben einen sehr eigenen Lifestyle dort, der nicht wirklich in eine Demokratie passt.


Für manche Polit-Experten hängt Europas Zukunft auch von Ankara ab, etwa in der Flüchtlingsfrage. Was denken Sie?


Diese Einschätzung kommt ein wenig spät. Aber Ankara ist nicht das Hauptproblem. Die Büchse der Pandora für Europa wurde in Syrien geöffnet. Und dabei geht es nicht nur um eine politische Krise, sondern auch um eine humanistische, denn in Europa drohen die Werte einer humanistischen Gesellschaft über Bord geworfen zu werden.

Worauf hoffen Sie in der Türkei?


TEMELKURAN: Dass es wird, wie es bisher immer war: Das Land steht wieder auf, wenn man es am wenigsten erwartet.