In der laufenden Phase des Brexits gehöre ich zur kleinsten, traurigsten und pessimistischsten Fraktion. Ich bin ein Verweigerer. Fast ein Jahr ist vergangen, und noch immer schüttle ich ungläubig den Kopf - keine sehr zweckdienliche politische Handlung. Ich akzeptiere diesen fast schon mystischen, emotional aufgeladenen Entscheid, die EU zu verlassen, nicht. Ich will, ich kann nicht daran glauben. Ich weise ihn zurück.
Meine Fraktion lebt im Zustand permanenter Ratlosigkeit. Wie konnte das in einer gestandenen parlamentarischen Demokratie geschehen, diese Absage an Common Sense und gute Staatsführung? Wie kann es sein, dass in einer einmaligen Abstimmung ein gutes Drittel der Wählerschaft das Schicksal der Nation für ein halbes Jahrhundert vorausbestimmt? Dass mit schamlosen Lügen für den Brexit argumentiert wurde? Dass das Resultat eines konsultativen Wahlgangs plötzlich verbindlich war? Dass Politiker, die noch unlängst für die EU plädiert hatten, jetzt die höchsten Ämter im Land besetzen und uns aus dem Staatenbund treiben wollen? Dass ein Klüngel, in dem zornige alte Männer zahlreich vertreten sind, die Zukunft des Landes gestaltet - gegen den Willen der Jungen? Dass eine Handvoll Milliardäre um eigener finanzieller Interessen willen die Kampagne der Brexit-Befürworter generös unterstützten? Dass, um Guy Verhofstadt zu zitieren, eine Katzbalgerei unter den Tories dermaßen ausartete? Dass das Land wie ein deprimierter Teenager zur Rasierklinge griff, um sich den Arm zu ritzen, und jetzt die eigene Halsschlagader beäugt?
Die Brexit-Gemeinde ist eine Kirche mit breiter Basis. Schauen Sie sich einmal um. Im einen Flügel sitzt die Mehrheit - anständige, besorgte Menschen, deren Entscheid durch die Ängste bedingt war, welche die Immigration und die daraus folgenden, allzu schnellen Veränderungen in ihrem Umfeld ausgelöst hatten. Andere waren an den harschen Kanten der Globalisierung zu Schaden gekommen, wieder andere träumen von dem, was England ihrer Meinung nach einst war.
"Anglikanische" Brexit-Befürworter
Wenn wir etwas weitergehen, gelangen wir zu denjenigen, die ich die anglikanischen Brexit-Befürworter nennen möchte - anglikanisch, weil sie so nah bei den atheistischen EU-Anhängern sind, dass der Unterschied kaum wahrzunehmen ist. Sie wollen einen „weichen“ Brexit mit vollem Zugang zum Binnenmarkt, Zollunion, Personenfreizügigkeit, dem Europäischen Gerichtshof, happigen Jahresbeiträgen - aber ohne Handhabe bei der Gestaltung der EU-Politik: völlig absurd. Warum nicht gleich Atheist werden?
Wirtschaftliche Selbstmörder
Dann kommen wir zu den Orthodoxen, den „harten“ wirtschaftlichen Selbstmördern, die von Zollunion und Binnenmarkt nichts wissen wollen; sie träumen von sofortigen und vielfältigen Handelsabkommen rund um die Welt, deren Schiedsklauseln auf wundersame Weise nie eine höhere Gerichtsbarkeit denn die britische in Aktion treten lassen.
"Feinde des Volkes"
Einen Schritt weiter stehen diejenigen, die am liebsten einen türknallenden Abgang ganz ohne Abkommen hätten. Dann finden wir uns in der Gesellschaft derer, die Andersdenkende und sogar das Hohe Gericht gern mit Robespierres scheußlichem Prädikat „Feinde des Volkes“ belegen. Wir drängeln uns durch Leute, die Ausländer auf der Straße feindselig anstarren oder, in sicherer Deckung hinter ihrem Computerbildschirm, Pro-EU-Aktivistinnen wie Gina Miller mit Vergewaltigung und Mord bedroht haben.
Freunde der Gewalt
Zuletzt landen wir bei der gemeinsten Sorte, deren Vertreter vor physischer Gewalt nicht zurückscheuen, wenn jemand auf der Straße Polnisch spricht; jene, die im friedlichen Croydon einen Asylsuchenden umbringen oder eine Labour-Abgeordnete ermorden, weil sie sich für den Verbleib in der EU ausspricht.
Da sind wir nun wirklich in einem neuen Land, wo es nicht mehr so exotisch wirkt, wenn eine frühere Führungspersönlichkeit der Tories von Krieg mit Spanien redet.
Ja, der Brexit hat etwas hervorgebracht in der Nation - aber nichts Heldenhaftes, Freudiges oder Generöses; vielmehr lockte er aus finsteren, feuchten Zonen die niedrigsten menschlichen Impulse ans Tageslicht, vom Kleingeist über die Gemeinheit bis zur Mordlust.
Gelähmte Brexit-Gegner
Aber trotz alledem: Die politische Energie und Initiative war aufseiten der Brexit-Befürworter. Was war nur los mit den Gegnern? Sie banden sich selbst die Hände, verführt durch ihre fatale Neigung zu rationaler Argumentation, wo sie an Emotionen hätten appellieren müssen. Wir sind eine große, friedfertige Gruppe, 16,1 Millionen stark, nachdenklich, unglücklich, führerlos, mit einer dürftigen politischen Vertretung.
Wir drohen nicht mit Vergewaltigung. Soviel ich weiß, hat kein „Remainer“ je einen Brexit-Befürworter umgebracht. Unsere Gemeinde - und das ist vielleicht ihr Verhängnis - ist nicht so breit aufgestellt. Sie ist launenhaft, weinerlich, neigt zum Jammern, was sie manchmal sogar auf ergreifende Weise tut. Und insgesamt scheint sie, jedenfalls bis jetzt, den Lauf der Dinge stoisch akzeptiert zu haben.
Wenn der Wahlentscheid anders ausgefallen wäre, aber mit derselben schmalen Marge, dann hätten sich die Brexit-Befürworter wohl nicht in eine Ecke verkrochen, um wehmutsvoll zu klagen. Sie hätten schwerlich zugestanden, dass „das Volk gesprochen hat“ und der Verlierer sich fügen muss. Nein, sie hätten weitergekämpft, wie sie und die erregbaren Zeitungen, die ihnen zur Seite stehen, es seit dem letzten Referendum vor vierzig Jahren getan haben. Hatte Nigel Farage nicht gesagt, dass es ein zweites Referendum geben würde, wenn seine Seite verlöre und der Wahlausgang knapp wäre?
Zweites Referendum
Worauf wir jetzt fokussieren müssen, ist ein zweites Referendum über die Frage, ob wir uns auf einen schlechten Deal einlassen oder die Übung abbrechen sollen. Sehen Sie sich noch einmal Artikel 50 des EU-Vertrags an. Er ist in klarer Sprache abgefasst. Er ist sehr kurz. Er besagt nicht, dass eine Nation, die den Austritt beschlossen hat, diesen Entscheid auch tatsächlich umsetzen muss; eine solche Situation wird de facto nicht einmal erwähnt.
Wir sollten uns ein Stück von dem ausborgen, was Isaiah Berlin negative Freiheit nennt, und voraussetzen, dass man in einer offenen Gesellschaft tun darf, was nicht explizit verboten ist. Ich bin einig mit jenen Brexit-Befürwortern, die finden, dass kein Austrittsabkommen besser ist als ein schlechtes. Allerdings nicht in dem Sinn, dass wir die EU türknallend verlassen und riskieren sollen, dafür mit entsprechenden Tarifregelungen gestraft zu werden. Sondern in dem Sinn, dass wir eintreten. Was eigentlich gar nicht nötig ist, denn wir sind ja schon drin in der EU.
Die Nerven blank
Die Komplexität der Brexit-Verhandlungen ist offensichtlich; beiderseits liegen die Nerven allmählich blank. Aus strukturellen Gründen dürfte das Win-win-Arrangement, mit dem sich die Brexit-Befürworter aufplusterten, außer Reichweite sein. Bis 2019 könnten die Briten durchaus in der Stimmung sein, nochmals über den Entscheid nachzudenken. Dann werden zweieinhalb Millionen junger Engländer, die mehrheitlich für den Verbleib in Europa sind, das achtzehnte Altersjahr erreicht haben und wahlberechtigt sein; und anderthalb Millionen Bürger meiner Generation, mehrheitlich Brexit-Befürworter, sind dannzumal unter der Erde.
Lassen wir die Negativpunkte einmal beiseite - die steigende Inflation, die Tatsache, dass die verheißenen Milliarden für den National Health Service sich ebenso wenig manifestieren werden wie die angedrohten türkischen Horden an Britanniens Grenze. Die EU wird - erst recht nach der Wahl Macrons - wahrscheinlich in Reformlaune sein und eine enger gefasste Integration der Eurozone ins Auge fassen: ein perfekter Moment, um die Idee eines Europa der zwei Geschwindigkeiten wiederzubeleben.
Viele von uns glauben, dass die EU nach wie vor die außergewöhnlichste, ehrgeizigste und liberalste Allianz in den Annalen der Menschheitsgeschichte ist. Sie war die Hüterin einer bis dato einzigartigen, siebzig Jahre währenden Periode des Friedens und der Prosperität. Sie ist eine ideale Handelsgemeinschaft, zu der wir noch immer privilegierten Zugang haben.
Heroisches Projekt
Vor dem Hintergrund jahrhundertelangen Blutvergießens ist sie ein heroisches Projekt; nirgendwo sonst auf der Welt kam man näher an einen offenen, freidenkenden, toleranten Staatenbund zwischen Nationen, die sich einst bekriegten. Zugleich bewahrt sie nationale Differenzen - eine Fahrt von Slowenien nach Lissabon oder Lübeck reicht, um das zu sehen. Auf menschlicher und kultureller Ebene ist die EU wesentlich reicher und auf fruchtbare Art komplexer als die Vereinigten Staaten. Dort, wo sie Reform und Entwicklung braucht, sollten wir Briten zur Stelle sein, um das schwere Rad drehen zu helfen.
Die Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre haben erwiesen, dass die liberale Demokratie nicht das unvermeidliche Ziel aller Entwicklung ist, sondern dass sie auf dem globalen politischen Spektrum nur eine geringe Bandbreite einnimmt. Und wie die Erfahrungen in Frankreich, Großbritannien, den USA, Polen und Ungarn zeigen, ist die liberale Demokratie zerbrechlich; sie bedarf steter Erneuerung, damit ihre Gewinne noch gerechter verteilt werden. Das Projekt EU ist enormem Druck ausgesetzt: der Feindseligkeit Russlands, dem kühleren Wind aus Amerika, der Migrationskrise, den irrationalen populistischen Bewegungen, die ehrgeizigen Demagogen als Vehikel dienen. Der Brexit wäre ein weiterer furchterregender Posten auf dieser Liste.
Ein guter Grund, nicht aufzugeben
Wenn Europa wieder den alten, bösartigen Nationalismen anheimfällt, dann lehrt die Geschichte, dass auch England darunter leiden und in blutige Konflikte verwickelt werden wird. Ein guter Grund, nicht aufzugeben. Es stimmt zuversichtlich, dass so viele Gruppierungen unserer Zivilgesellschaft die Herausforderung angenommen haben, indem sie jüngere Wähler mobilisieren und Anweisungen zu taktischem Wahlverhalten geben; eine Schande allerdings, dass Labour sich nicht an die Spitze dieser Bewegung gesetzt hat.
Wir leben in einer parlamentarischen Demokratie. Unser Parlament, einst so entschlossen zum Verbleib in der EU, hat uns im Regen stehen lassen. Labour verharrt in nutzloser Ambivalenz. Zu viele Tories im Parlament, die eigentlich für die EU wären, haben ihre Prinzipien um des Machterhalts und der Parteidisziplin willen über Bord geworfen. Die Liberaldemokraten halten die Fahne hoch, aber ihre Basis ist winzig.
Aber eine proeuropäische Zivilgesellschaft ist nun offensichtlich bereit, für ihre Überzeugungen zu kämpfen. Falls wir 2019 tatsächlich mit der Option konfrontiert sind, die EU ohne Abkommen zu verlassen oder uns einem harschen Austrittsregime zu unterziehen, könnten ein vorsichtig gewordenes Wahlvolk und ein besorgtes Parlament geneigt sein, der Forderung nach einem zweiten Referendum nachzukommen.
Hören wir nicht mehr auf die Brexit-Befürworter, die uns täglich ihr „Das Volk hat gesprochen“ unter die Nase reiben. Denn diese Leute scheinen nichts mehr zu fürchten, als dass das Volk nochmals sprechen könnte. Ist eine Verhandlungslösung mit der EU auf dem Tisch, dann muss sie der Nation vorgelegt werden. Kommt kein Vertrag zustande - dann sollten wir nicht die Tür hinter uns zuschlagen, sondern drinnenbleiben. Lasst das Volk sprechen - ein zweites Mal.