Bernie Sanders wirkt frisch und munter, als er in Berlins Mitte im Verlagshaus von Ullstein das Besprechungszimmer betritt. Dabei ist der US-Senator am Vorabend noch in Washington in einer Talkshow aufgetreten. Der 75-Jährige ist das erste Mal seit der Wahl nach Europa gekommen, um erst in Berlin und dann in London sein neues Buch „Unsere Revolution – Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft“ (Ullstein, 464 Seite, 20,70 Euro) zu präsentieren, das ab Freitag auch in einer deutschen Übersetzung in den Buchhandel kommt.

Er, der sich selbst als Sozialist bezeichnet, war der Hoffnungsträger vieler junger Amerikaner im US-Wahlkampf. Der Senator aus Vermont ist zwar offiziell parteilos, wollte aber für die Demokratische Partei als Kandidat nominiert werden und unterlag nach einer schmutzigen Vorwahlschlacht gegen seine Kontrahentin Hillary Clinton. Am Ende stand Donald Trump als neuer Präsident fest, den Sanders im Senat nun mit allen politischen Mitteln bekämpft. Wie hartnäckig er dabei sein kann, zeigte er 2010 bei einer achteinhalbstündigen Rede. Das Filibustern wird als taktisches Mittel der Minderheit im Senat angewendet, um einen Beschluss zu verhindern. Während viele Politiker irgendwann nur noch vor sich hinreden, filetierte Sanders in seiner Rede ohne fertiges Konzept und nur mit Stichpunkten über die gesamte Zeit die US-Politik und ging damit in die Geschichtsbücher ein. An diesem Vormittag sitzt er aber entspannt am Tisch. Wenn ihm etwas wichtig ist, trommelt er mit den Fingern auf den Tisch. Wenn er sich allerdings in Rage redet, dann rudert er mit den Armen. Die Lage in den USA sei ernst.

Senator Sanders, Ihre Ideen zum Wirtschafts-, Steuer- und Gesundheitssystem, die sie in ihrem neuen Buch „Unsere Revolution – Wir brauchen mehr Gerechtigkeit“ ansprechen, klingen nicht gerade typisch für die USA, sind aber populär bei jungen Leuten. Erleben wir eine neue intellektuell geprägte, linksorientierte Debatte wie in den 60iger Jahren unter Habermas, Horckheimer und Adorno in der Frankfurter Schule oder in Paris bei Jean-Paul Sartre?

SANDERS: In den USA ist es schon etwas anders. Aber wir haben eine junge Generation, die die Welt anders sieht und aus dem alten Modell ausbrechen will. Diese jungen Menschen sind gut ausgebildet und sehen, dass nahezu jedes größere Land der Erde eine Gesundheitsvorsorge anbietet. Wenn ich durch die Straßen von Berlin oder Wien gehe, finde ich keinen Menschen, der keine Krankenversicherung hat. In meinem Land haben 28 Millionen Bürger keine Versicherung und es gibt etliche Menschen, die sich wegen der hohen Selbstbeteiligung nicht einmal einen Arztbesuch leisten können. Viele fragen sich, warum das so ist.

Ist es nur das Gesundheitssystem?

SANDERS: Wir haben eine schrumpfende Mittelklasse. In meinem Bundesstaat Vermont arbeiten viele Menschen 60 bis 70 Stunden pro Woche, um über die Runden zu kommen. Wir haben heute in den USA – und das ist nicht zu fassen – eine sinkende Lebenserwartung. Etliche haben aufgegeben und flüchten sich in Drogen, Alkohol oder sogar Selbstmord. Die junge Generation schaut sich gerade verwundert um und fragt sich, warum so etwas in den USA passiert - dem wohlhabendsten Land in der Weltgeschichte. Es ist unmoralisch, wenn die obersten zehn Prozent soviel verdienen wie die untersten 90 Prozent. 52 Prozent des Einkommens geht an das oberste Prozent der Bevölkerung. Das wollen die jungen Menschen ändern. Sie sehen auch den Klimawandel als real und wollen deshalb das System transformieren. Und es sind immer mehr US-Bürger, die sagen: Jetzt ist es genug. Die Wirtschaft ist für alle Menschen gleichermaßen da.

Ist Donald Trump als US-Präsident so schlecht, wie sie es erwartet haben?

SANDERS: Er ist schlecht und er ist auch so schlecht, wie ich es mir erwartet habe. Eines der wenigen positiven Dinge seiner Präsidentschaft ist, dass er die Kosten für Medikamente senken will. Ich zahle derzeit etwa das Doppelte der Preise wie in Europa. Zudem hat er verstanden, in welch schlechtem Zustand unsere Infrastruktur ist. Das will er beheben und damit Arbeit schaffen. Eine Billion Dollar für die Infrastruktur für zehn Jahre würde 30 Millionen Arbeitsplätze bringen. Dass er das anerkannt hat, ist gut. Seine Idee, wie wir das finanzieren wollen, ist aber schlecht.

Mit welcher Strategie begegnen die Demokraten der Trump-Politik?

SANDERS: Es ist nicht nur eine Strategie gegen Trump. Warum konnte denn Donald Trump gegen Hillary Clinton gewinnen, obwohl sie insgesamt fast drei Millionen mehr Stimmen bekommen hat? Warum konnte er sich teilweise hauchdünn in den entscheidenden Staaten durchsetzen? Diese Frage ist für die Demokraten nun wichtig. Die Republikaner sind zu einer extremen Rechtspartei geworden, deren Agenda eigentlich Thema um Thema gerade nicht von einer Mehrheit der Amerikaner unterstützt wird. Die Republikaner kontrollieren aber dennoch auch das Repräsentantenhaus und den Senat im US-Kongress und zwei Drittel der Gouverneurs-Ämter in den Bundesstaaten. Die Demokraten haben in den vergangenen neun Jahren fast 1000 Sitze in der Legislative in den Staaten verloren. Meiner Ansicht nach sind die Demokraten zu konservativ geworden und waren zu dicht an den wohlhabenden Kampagnen-Unterstützern und den Großunternehmen der Wall Street. Amerikaner mit einem niedrigen Einkommen haben zu den Demokraten geschaut und gesagt, die Partei steht nicht wirklich für irgendetwas. Die Partei steht nicht mehr auf der Seite der arbeitenden Menschen.

In einem Interview mit dem britischen „Guardian“ haben Sie Trump einen pathologischen Lügner genannt.

SANDERS: Oh, habe ich das?

Ja.

SANDERS: Es stimmt ja auch.

Wieviel Schaden hat er für die USA nach drei Monaten angerichtet?

SANDERS: Ich widerspreche ihm sehr, sehr stark in nahezu jedem Thema. Ein Beispiel: Das Haushaltsbudget, das er vorgeschlagen hat, ist das schlechteste, das je ein Präsident in der modernen Geschichte dieses Landes dem Kongress präsentiert hat. Es macht massive Einschnitte im Gesundheitssystem, in der Bildung, im Umweltschutz, in der Kinderbetreuung, für Senioren und es gibt gleichzeitig eine Steuerentlastung von drei Milliarden Dollar für das oberste Prozent. Er nimmt von den armen, arbeitenden Menschen und gibt es den Superreichen. Oder seine Ansicht zum Klimawandel. Dieses Leugnen ist unglaublich. Aber es gibt neben den vielen Meinungsverschiedenheiten etwas, was meinen Ärger über ihn richtig tief gehen lässt. Es ist das, was Amerika ausmacht und womit es die Welt angeführt hat: Es ist die pulsierende Demokratie. Trump hat diese Demokratie auf verschiedene Weisen untergraben. Eine starke Demokratie lebt von starken Meinungsverschiedenheiten. Aber man kann keine Demokratie aufrechterhalten, in der der Präsident unverschämt lügt und lügt und lügt. Und er wiederum selbst die Medien ständig als Lügner bezeichnet. Das beunruhigt mich sehr.

Ullstein, 464 Seiten, 20,70 Euro
Ullstein, 464 Seiten, 20,70 Euro © Ullstein Verlag

Sind die Institutionen der USA stark genug, um einen angehenden Autokraten aufzuhalten?

SANDERS: Lasst uns hoffen und beten, dass das der Fall ist. Zum jetzigen Zeitpunkt haben sich die Mainstream-Medien noch nicht einschüchtern lassen und sind sehr wachsam, was Trump tut. Auch der Kongress ist noch stark. Wir arbeiten Tag und Nacht, um die Institutionen standhaft zu halten.

Manche vergleichen die Russland-Verbindung von Trump bereits mit Watergate von Richard Nixon. Wird er die vollen vier Jahre durchregieren?

SANDERS: Wir wissen es noch nicht genau und es ist falsch und unangemessen, in dieser Situation vorzuverurteilen. Ich bin weit entfernt von den Vorstellungen von Präsident Trump, aber ein Amtsenthebungs-Verfahren beruht nicht auf Meinungsunterschieden. Das geht nur bei schwersten Verbrechen. Wir wissen ohne jeden Schatten des Zweifels, dass Russland durch einen Cyberangriffsversuch hochgradig involviert war in die US-Präsidentschaftswahlen und sie höchst daran interessiert waren, dass Trump gewinnt. Was wir nicht wissen, wie groß die Einigung war zwischen dem Trump-Team und Russland. Das wird gerade ermittelt in den beiden Geheimdienstausschüssen im Repräsentantenhaus und dem Senat. Der Chefermittler Robert Mueller wird sowohl von den Demokraten als auch den Republikanern sehr geschätzt. Bis wir keinen Abschluss haben, kann ich diese Frage nicht beantworten.