Zum Abschluss gönnte sich Martin Schulz noch einmal ein Heimspiel. Als ehemaliger Fußballer mit der Ambition zum Profi, weiß er von der berauschenden Bewirkung der Anhängerschaft auf dem eignen Platz, von dem man jede Ecke kennt – gerade wenn man zum Saisonende mit dem Rücken zur Wand steht. Manche in der SPD sprechen sogar schon von Abstiegsangst. Und so stand der Bundesvorsitzende der deutschen Sozialdemokraten am Donnerstag auf der luftigen Bühne der Burg Wilhelmstein in seiner Heimatstadt Würselen und ließ seine Witzchen durch die roten Fahnen der Genossen ziehen. Die sonst so greifbare Anspannung vor der Landtagswahl am Sonntag war kurz einmal verflogen.
Nordrhein-Westfalen wird oft als „Herzkammer der Sozialdemokratie“ bezeichnet. Hochöfen, Kohlegruben, Fabrikbauten bestimmten einst das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands. Sie sind jetzt nur noch die stillen Zeugen einer ruhmreichen Vergangenheit. Es ist auch die Heimat von Martin Schulz. Und ausgerechnet hier könnte sich die Zukunft des Hoffnungsträgers der Sozialdemokraten entscheiden. Wenn am Sonntag die CDU stärkste Partei wird und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die Macht verliert, droht den SPD eine Art Herzkammerflimmern. „Wenn die SPD auf den zweiten Platz kommt, ist die Abwärtsspirale nur noch ganz schwer aufzuhalten“, sagt Parteienforscher Oskar Niedermayer der dpa. „Das würde bedeuten, dass Martin Schulz seine Hoffnungen auf die Kanzlerschaft begraben kann.“
Es sieht tatsächlich kurz vor der Wahl danach aus, dass der SPD die Kraft ausgeht. Bis vor kurzem stand die äußerst beliebte Ministerpräsidentin mit ihrer Partei unangefochten vor der CDU unter dem Oppositionsführer Armin Laschet. Doch die plötzliche Umkehr der Verhältnisse hat weniger mit einem verbissenen Wahlkampf der beiden Kontrahenten zu tun. Laschet und Kraft wertschätzen sich sehr, gehen nicht nur in den Fernsehduellen pfleglich miteinender um, so dass man in Düsseldorf sogar von Laschets offensichtlichen Ambitionen auf eine Große Koalition spricht. Dabei hätte er im Siegfall wahrscheinlich sogar eine äußerst komfortable Situation, weil die Liberalen unter ihrem Spitzenkandidaten und FDP-Bundesparteichef Christian Lindner mit mehr als zehn Prozent sicher in den Düsseldorfer Landtag schaffen dürften und damit sogar Krafts bisherigen grünen Koalitionspartner von Platz drei verdrängen sollten.
CDU überflügelt wieder die SPD
Die überraschende Stärke der CDU in NRW wird eher dem bundespolitischen Trend zugesprochen. Dort verliert der sozialdemokratische Hoffnungsträger Schulz offenbar zunehmend an Rückenwind. Die SPD befindet sich nach ihrem kurzzeitigen Höhenflug im freien Fall und hat den alten Abstand zur Union von Kanzlerin Angela Merkel wieder hergestellt.
Die CDU-Chefin musste sich nicht einmal enorm viel in den Wahlkampf im deutschen Westen einschalten. Ohnehin ist weithin bekannt, dass Laschet zu ihren engsten Vertrauten zählt und selbst in Zeiten des größten Sturms gegen Merkels Flüchtlingspolitik ihre Position uneingeschränkt verteidigt hat.
Dennoch rechnet Merkel bei einem ihrer wenigen Auftritte mit der Landesregierungschefin außergewöhnlich hart ab. In NRW lebten 22 Prozent der gesamten Bevölkerung Deutschlands. Dennoch fänden 38 Prozent aller Wohnungseinbrüche in dem rot-grün geführten Bundesland statt. Allein der Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri offenbare, dass in Nordrhein-Westfalen vieles besser laufen müsse, sagte Merkel vor wenigen Wochen.
Am Dienstag dann legte sie noch einmal eine ultimative Lunte für Kraft zum Abschluss. Immer wieder hatte CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet im Wahlkampf gefordert, die Ministerpräsident möge ein Bündnis mit der Linkspartei nach der Wahl ausschließen. Dies wiederholte nun auch Merkel und prompt am Tag danach, reagierte Kraft – offenbar unter dem Eindruck der Umfrageergebnisse. Sie halte die Linke nicht für regierungsfähig, sagte Kraft am Mittwoch. Mit ihr werde es „keine Regierung mit Beteiligung der Linken“ geben, sagte sie dem Radiosender „WDR 5“ und stellte sich damit auch gegen die bisherige Linie der Bundespartei, die eine Zusammenarbeit nicht ultimativ ausschloss. Schulz beeilte sich danach, Krafts Position zu bestätigen. „Unter meiner Führung wird es nur eine Koalition geben, die pro-europäisch ist und die ökonomische Vernunft walten lässt“, sagte der SPD-Kanzlerkandidat bei einem Auftritt in der Berliner Industrie- und Handelskammer. Ganz ohne Linkspartei könnte es aber schwer werden für die SPD – selbst im Falle eines Sieges in Düsseldorf am Sonntag und auch in Berlin nach der Bundestagswahl am 24. September.
Ingo Hasewend