"Die Zeit des Menschen ist nichts, solange man sie nicht erzählt“, hat der große Denker Paul Ricoeur gesagt. Der französische Philosoph, dessen Lebenslauf wie eine Hiobsgeschichte war -Waisenkind, Kriegsgefangenschaft, Tod des Sohnes - war einer der Lehrmeister von Emmanuel Macron, nunmehr 25. Präsident der Französischen Republik. Zwei Jahre lang war Macron Ricoeurs Assistent.
Da hatte Macron gerade das Philosophiestudium an der französischen Elite-Hochschule Sciences Po, dem „Eiffelturm der Bildung“ (© „Spiegel“), mit Arbeiten über Machiavelli, den Florentiner Philosophen der Macht, und Hegel abgeschlossen. Von Ricoeur wurde Macron in die Kunst des Erzählens eingewiesen und in die Haltung, den Andersdenkenden verstehen zu wollen. Macron will ein Präsident für alle Franzosen sein. Das sagt er auch jetzt noch, nach der Wahl.
Im Wahlkampf hatte er auch die Wähler vom rechten Rand der Linken bis zum linken Rand der Rechten erreichen wollen. Er hat es geschafft. Mit seiner politischen Bewegung „En Marche!“ (Vorwärts!) ist es dem Pro-Europäer gelungen, auch einige politikverdrossene Franzosen anzusprechen, die mit dem traditionellen Gestus der arrivierten Parteien nichts mehr anfangen wollen oder können.
Seine politische Bewegung „En Marche!“, die vom 39-Jährigen laut „Le Monde“ wie ein „Start-up-Unternehmen“ geführt wird, ist außergewöhnlich bunt. Macron fischte bei der Gründung im Vorjahr im Lager seiner ehemaligen Partei, den Sozialisten, wie bei Enttäuschten von Rechts- bis Linksaußen. Macrons Appell: Lagerdenken überwinden! Der Kernpunkt der Bewegung ist aber auch ein Gesellschaftsprojekt, das auf Konkurrenz und Deregulierung abzielt: Taxifahrer gegen Uber, das ist für Macron völlig okay.
Was den Franzosen besonders zu gefallen scheint: Macron stammt aus einer bürgerlichen Familie und hegt linke Gedanken. Oder wie es „Le Monde diplomatique“ formuliert: Macron gehört einer christlichen Linken an, die gekennzeichnet ist durch die drei „Antis“: „Antikommunistisch, antikolonialistisch, antijakobinisch“.
Aufgewachsen ist Macron im nordfranzösischen Amiens, beide Eltern sind Ärzte. Als er sich als 17-Jähriger im heimatlichen Jesuitengymnasium in seine um 24 Jahre ältere Französischlehrerin verliebt, verschicken ihn Maman und Papa bis zur Matura nach Paris. Macron heiratet seine Amour fou später trotzdem, bekanntlich ist Brigitte Trogneux bis heute seine Première Dame. Macrons Lebensweg ist außergewöhnlich, und nicht nur, weil er Kaderschmieden wie Sciences Po oder ENA, die Verwaltungshochschule, locker schaffte.
Im Eilverfahren arbeitete er bei der Finanzaufsichtsbehörde, bei der Rothschild-Bank, landete im Stab des Staatspräsidenten, war Wirtschaftsminister.
Seine brillante Karriere als Investmentbanker bei Rothschild erreichte er durch einen fetten Geschäftsabschluss mit dem Nestlé-Konzern, dessen Chef damals der gebürtige Villacher Peter Brabeck-Letmathe war. Macron begleitete mit dem Nestlé-Deal im Jahr 2012 eine der größten Übernahmen des Jahres, denn bei Nestlés Kauf der Säuglingsnahrungssparte des US-Pharmakonzerns Pfizer ging es um knapp zwölf Milliarden Dollar. Macrons kometenhafter Aufstieg habe ein klares Muster, analysiert „Le Monde diplomatique“: Nie länger als drei Jahre an einem Arbeitsplatz, aber immer lange genug, um ein Machtnetzwerk aufzubauen. Und darauf konnte er bei der Gründung von „En Marche!“ zurückgreifen.
Macron sei der Liebling des „Systems der Eliten“, hatte Marine Le Pen ihrem Kontrahenten in der letzten TV-Debatte vor der Wahl vorgeworfen und von Macron nur ein entnervtes „Madame Le Pen!“ geerntet. Die Front-National-Chefin hatte ein düsteres Bild von Frankreich gezeichnet. Der nun gewählte Präsident erklärte hingegen, mit Optimismus in die Zukunft zu blicken. Auch das war ein Leitsatz von Macrons Lehrmeister Paul Ricoeur; der hatte sich den Optimismus freilich hart erkämpfen müssen.
Manuela Swoboda